Als würde er eine alte Musik-Kassette einschieben und Play drücken. Damien Carême erinnert sich ohne Zögern an seine erste Reise nach London. «Mit Freunden, Fähre ab Dünkirchen, dann Zug; in einem Tag hin und zurück.»
Niemand verlässt freiwillig seine Wurzeln, seine Heimat, um in ein fremdes Land abzuhauen.
Ein Thema, das wegen des Brexits nun alles auf den Kopf stellt, ist die Flüchtlingsfrage. Carême war viele Jahre Bürgermeister von Grande-Synthe, gleich neben Dünkirchen. Hunderte Migranten, jeden Monat, Afghanen, Irakerinnen, Kurden, stranden dort, weil sie nach Grossbritannien gelangen wollen.
«Kein Interesse, so weiter zu machen»
In den letzten Monaten hat sich deren ohnehin prekäre Situation verschlimmert. Verzweiflung mache sich breit, so Carême. «800 Personen wurden allein in den letzten sechs Monaten im Ärmelkanal aus Gummibooten gerettet.» Die Küstenwachen von Frankreich und Belgien kämpfen gegen Windmühlen, aus Solidarität, noch.
Weil das Vereinigte Königreich Mitglied der EU war, fanden die Ausreisekontrollen auf dem Festland statt. Carême, heute Grüner Parlamentarier im Europaparlament, sitzt immer noch im Gemeinderat von Grande-Synthe. Wie es nach dem Brexit weiter geht, wisse niemand. «Wir haben kein Interesse, so weiterzumachen. Nach dem Brexit sollen die Briten die Einreise auf ihrer Insel kontrollieren.»
Auffanglager finanziert
Aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist nicht die Art von Carême. Eher umgekehrt. Er hat als Bürgermeister einen administrativen Kleinkrieg mit den französische Asylbehörden geführt.
Er hat ein Auffanglager finanziert, den Migranten garantiert, dass sie dort nicht kontrolliert und zurückgeschafft werden. Er hat aus ganz Europa Freiwillige zusammengetrommelt, die ihn unterstützten.
Das hat ihm viel Ärger mit der französischen Regierung beschert, aber auch viel Anerkennung von Bürgern: Dass er versuchte, eine würdige Unterkunft für Migranten zu organisieren, während andere sich hinter juristischen und administrativen Argumenten verstecken, um nichts zu tun. «Ich denke einfach an diese Menschen. Wir müssen eine Lösung finden für jene, die um jeden Preis nach Grossbritannien gelangen wollen.»
«Brexit bringt nur Ungewissheit»
Seit Jahren ist allerdings keine Lösung in Sicht. Das weiss auch Carême. Nachvollziehen kann er das nicht. «Niemand verlässt freiwillig seine Wurzeln, seine Heimat, um in ein fremdes Land abzuhauen.»
Der Brexit eröffne keine Lösungen. Sicher nicht in der Flüchtlingsfrage. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite des Ärmelkanals. «Der Brexit bringt nur Ungewissheit für Bürger, Politiker, die öffentliche Hand.»
Rendez-Vous, 29.1.2020, 12:30 Uhr