Der Mann hat einen Scherbenhaufen geerbt. Seit Keir Starmer im April die Führung der Labour Partei übernommen hat, muss er das Erbe seines Vorgängers Jeremy Corbyn beseitigen: Eine toxische Altlast aus Retro-Sozialismus, Dilettantismus und Antisemitismus. Starmers Strategie ist dabei so klar wie fokussiert. Der ehemalige Staatsanwalt baut nicht marxistische Luftschlösser wie sein Vorgänger, sondern nimmt die Arbeit der Regierung gewissermassen forensisch unter die Lupe und stellt diese infrage.
Starmer grilliert Premier Johnson öffentlich
Angriffsflächen gibt es für Starmer genug. Es läuft gerade einiges schief in Grossbritannien. Chaos bei den Schulabschlussprüfungen, steigende Corona-Fallzahlen, dramatisch sinkende Kapazitäten in den Test-Zentren. Leute mit Symptomen in Schottland werden nach London zum Test geschickt oder umgekehrt. Folgenlos bleibt solches Treiben nicht. In der Fragestunde des Parlaments wird Premierminister Boris Johnson von Starmer jeweils öffentlich gegrillt.
Der Oppositionsführer wirft Johnson «völlige Inkompetenz und serielles Versagen» vor. So präzis, wie hartnäckig und höflich. Der neue Slogan der Labour-Partei heisst denn auch «a new leadership». Starmer ist sichtlich bemüht, sich abzugrenzen – von Johnson, aber ebenso von seinem Vorgänger Corbyn.
Johnson kennt Starmers wunden Punkt
Boris Johnson versucht seine notorische Rat- und Ahnungslosigkeit jeweils mit Humor, wilden Versprechen oder wortgewaltigen Gegenangriffen zu kaschieren. «Mir fällt auf, dass der Oppositionsführer zwar ständig alles kritisiert, aber beim Thema Brexit ist er total still.»
Mit grossem politischem Gespür legt Boris Johnson dabei regelmässig den Finger exakt auf den wunden Punkt von Starmer. Johnson hat mit dem Versprechen, den Brexit endlich umzusetzen, im Dezember die Wahlen haushoch gewonnen. Für Labour war der Brexit dagegen ein Fiasko.
Starmer muss die verlorenen Wähler überzeugen
Der Austritt aus der EU spaltete nicht nur das Land, sondern ebenso die Labour-Partei und ganz besonders ihre Wählerschaft. Labour ist heute urbaner, kosmopolitischer und liberaler denn je zuvor. Die Wähler, die Labour in den abgewirtschafteten Städten im Nord-Osten Englands verloren hat, sind jedoch anders: provinziell, patriotisch und vernachlässigt.
Diese verlorenen Wähler muss Starmer überzeugen, wenn er je einmal in Downing-Street 10 einziehen will. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Starmer in seiner heutigen Parteitag-Rede die soziale Sicherheit, Ausgleich und Fairness in den Mittelpunkt stellte.
Auch Starmer hat keine Antwort auf Kontrollverlust
Dieses Programm ist so edel wie sozial, aber es wird nicht reichen. Der konservative Boris Johnson hat Labour mit seinen milliardenschweren Versprechen für Spitäler, Strassen und Schulen längst links überholt. Und mit Geld allein lassen sich die Wunden des Brexit nicht heilen. Der Brexit-Slogan «Take back control» steht für weit mehr als die Kontrolle über Geld, Grenzen und Gesetze.
Viele Menschen in den vernachlässigten Regionen Englands haben das Gefühl, sie hätten die Kontrolle über den Lauf der Dinge verloren und insbesondere das Vertrauen in die Politik. Starmer hat heute glaubwürdig klargemacht, dass er dieses Vertrauen zurückgewinnen und an die Macht will. Doch eine konkrete Antwort auf den erwähnten Kontrollverlust konnte auch er bislang nicht liefern.