SRF News: Warum beugt sich Präsident Erdogan in diesem Fall dem öffentlichen Druck?
Iren Meier: Man könnte auf den ersten Blick meinen, die Demonstrationen, die heftige Opposition hätten ihn zum Rückzug von diesem Gesetz gebracht. Aber man weiss, dass Erdogan inzwischen immun ist gegen Kritik von aussen. Offenbar ist aber Kritik in der Regierungspartei AKP selber laut geworden und noch wahrscheinlicher war es seine Tochter Sümeyye, die ihn beeinflusst hat. Sümmeye ist Vorsitzende des islamisch-konservativen Frauenverbandes «Kader». Sonst ist sie durchwegs mit ihrem Vater einig, aber in diesem Fall soll sie Erdogan widersprochen haben.
Die Opposition soll ja auch Änderungsvorschläge einbringen können. Wie ernst ist das zu nehmen?
Es ist nicht anzunehmen, dass die Opposition so etwas wie Mitsprache erhalten wird. Vielmehr wurde der Justizminister aufgefordert, das Gespräch mit der Organisation von Sümeyye Erdogan zu suchen und das Gesetz so nachzubessern. Das heisst, die Tochter Erdogans soll da jetzt ganz offiziell mitmischen und das heisst auch, dass dieses Gesetz wahrscheinlich bald wieder auf den Tisch kommt.
Ehen mit Kindern unter 18 Jahren sind in der Türkei grundsätzlich verboten – sind Mädchen in der Türkei genügend vor sexuellen Übergriffen geschützt?
Nein, das sind sie nicht. Kinder-Ehen an sich sind in der Türkei für viele etwas ganz Normales und kein Tabu. Allein in den letzten drei Jahren wurden 135'000 Kinder unter 13 Jahren verheiratet. 95 Prozent davon waren Mädchen. In ländlichen Regionen ist die Zahl der Kinderbräute besonders hoch. Viele dieser Mädchen werden laut Frauenorganisationen sexuell missbraucht und vergewaltigt und müssen dann ihren Vergewaltiger heiraten – um der so genannten Ehre Willen. Das ist Realität. Frauenrechtsorganisationen, die in der Türkei traditionell sehr stark und kämpferisch sind, versuchen alles. Aber es ist in dieser patriarchalen Gesellschaft mit dieser Regierung sehr schwer, dem Einhalt zu gebieten. Es ist aber bemerkenswert, dass Erdogan selber zu Beginn seiner Amtszeit die Rechte der Frauen durchaus gestärkt hat. Verfassungsmässig sind die Frauen in der Türkei weitgehend gleichberechtigt.
Kinder-Ehen an sich sind in der Türkei für viele etwas ganz Normales.
Inzwischen jedoch ist Erdogan bekannt für sein konservatives Rollenbild. Kann man sagen: Er arbeitet er darauf hin, dass Mädchen und Frauen den Männern unterstellt sind?
Ja, ganz klar und das sagt er immer wieder. Er hält die Gleichberechtigung von Frau und Mann für etwas Widernatürliches. Er verlangt von den Frauen, dass sie fünf Kinder gebären, dass sie den Sinn ihres Lebens in der Mutterschaft finden. Oder er sagt, dass Frauen nachts auf der Strasse nichts zu suchen haben. Einer seiner Minister hat gesagt, Frauen sollen auf der Strasse nicht laut lachen. Dies alles beschreibt die heutige Politik in der Türkei; gegen die Frauen und ihre Freiheiten und Rechte.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.