Der Arm von Lora-Ann Chaisson zeichnet einen weiten Bogen: «Alles, was ihr hier seht, war einst Land.» Heute ist alles Wasser. Und wir sind mittendrin. Lora-Ann Chaisson hat uns mitgenommen auf ihrem kleinen Boot. Hinaus aufs Meer, wo früher kein Meer, sondern ihr Land war. Chaisson ist auf dieser kleinen Insel, die einst hier lag, geboren und aufgewachsen.
Heute lebt sie längst weiter landeinwärts. Denn von der Insel Jean Charles im Golf von Mexiko, vor der Küste Louisianas unweit von New Orleans gelegen, ist nurmehr ein kleiner Streifen Land übrig. 300 Meter ist er noch breit. In den 50er-Jahren waren es noch fünf Kilometer. Doch das meiste davon ist längst im Meer versunken.
Die Gründe für den Untergang von Jean Charles sind vielfältig. «Es begann mit der Entdeckung des Öls», erzählt Lora-Ann Chaisson. Als die Ölbarone das neue Geschäft entdeckten, begannen sie Kanäle durch das weiche Marschland vor Louisiana zu graben, um einfacher an ihre neuen Bohrtürme zu gelangen. «Aber wenn du für einen Bohrturm Land abgräbst, dann solltest du die neu aufgerissenen Ufer sichern.» Chaisson ereifert sich. «Doch genau das haben sie nicht getan, und was ihr hier seht, ist die Folge davon.»
Von 325 Einwohnern, die vor 20 Jahren noch auf Jean Charles lebten, sind zwölf übriggeblieben. Und auch die sollen die Insel nun verlassen. So wie Lora-Anns Vater Theo, der hier ein kleines Bootscenter führt: «Ich werde nirgendwo anders hingehen. Ich bin 86 Jahre alt und ich liebe diesen Ort.»
Kein Vertrauen in die Regierung
Theo Chaisson ist einer der wenigen, der sich einem Umsiedlungsprojekt der Regierung von Louisiana widersetzt und hierbleiben will. «Die Regierung sagt, dass wir auch nach einem Umzug unsere Häuser und alles behalten können.»
Doch die Chaissons trauen der Regierung nicht. «Ihr sprecht mit Ureinwohnern. Seit wann sollen wir der Regierung vertrauen? Ich mein, ehrlich … – schaut, was sie uns angetan haben!» Das ist die nächste Facette.
Denn Lora-Ann Chaisson ist auch Chief der Houma, einem der ursprünglichen Stämme, denen dieses Land einst gehört hatte – bevor es weisse Siedler an sich gerissen und zu den Vereinigten Staaten von Amerika gemacht haben. Auch aufgrund dieser Geschichte wehren sich die Houma und Lora-Ann Chaisson dagegen, als neuzeitige Klimaflüchtlinge bezeichnet zu werden. «Wir sind keine Flüchtlinge. Wir werden ein weiteres Mal vertrieben!»
Wir sind keine Flüchtlinge. Wir werden ein weiteres Mal vertrieben.
Nebst dem Salzwasser, das das Süsswasser immer mehr zurückdrängt, sind es die zuletzt immer heftiger werdenden Hurrikans, die Jean Charles immer unbewohnbarer machten. Vor allem der letzte, Ida, der Louisiana Ende letzten Jahres traf: «Sie sagen: Ida, das war wie Katrina, einfach auf Steroiden.»
Lora-Ann Chaisson steht vor zwei Karten des Marschlandes vor New Orleans, jener Stadt, welche am 29. August 2005 so heftig von jenem Hurrikan getroffen wurde. Eine Karte zeigt ein volles Land und ist aus den 50er-Jahren. Die andere zeigt nur noch wenige Landpunkte inmitten von blauem Meer und ist von heute. «Hurrikan Katrina kam, fegte hier draussen über uns hinweg und hinterliess eine Menge Schaden. Aber Ida hörte einfach nicht auf, sich zu drehen, sondern blieb und blieb und blieb».
Dass die Hurrikans immer heftiger werden, ist eine inzwischen gut dokumentierte, direkte Folge des Klimawandels. Die Erwärmung der Meere führt dazu, dass sich Hurrikans schneller mit Energie aufladen als zuvor. Aufgrund der Verdunstung laden sie sich schneller und mit grösseren Wassermassen auf. Die Folgen sind verheerend.
Und weil vor der Küste Louisianas immer mehr Land verschwindet, das zuvor als Barriere mildernd gewirkt hatte, ist das Ganze ein Teufelskreis. Ein Teufelskreis, dem die Bewohnerinnen und Bewohner von Jean Charles nur noch ohnmächtig zusehen können.