- Ungewöhnliche Szenen letzten Sonntag: In Moskau, tausende Kilometer von Burma entfernt, haben sich hunderte Muslime getroffen, um gegen die Verfolgung der muslimischen Minderheit der Rohingyas in dem asiatischen Land zu protestieren.
- Ähnliche Demonstrationen folgten im Nordkaukasus; die grösste in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Skandiert wurden Aufrufe zum heiligen Krieg, dem Dschihad.
- Die Proteste wurden von Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow initiiert. Er ist selbst Muslim und hat Wladimir Putin im Internet wegen dessen Haltung gegenüber dem burmesischen Regime kritisiert.
- Kadyrows Streben nach einer Führungsrolle in der muslimischen Welt droht nun zu einem Bruch zwischen Tschetschenien und Russland zu führen.
SRF News: Kadyrow übt öffentlich Kritik an Putins Politik, obwohl er eigentlich als dessen loyaler Statthalter gilt. Warum macht er das?
Uwe Halbach: Das ist in der Tat ein bemerkenswerter Vorgang. Denn bisher hatte sich Kadyrow immer als Fusssoldat Putins bezeichnet und seine Loyalität gegenüber Moskau bekundet. Und auch in seiner Politik in Bezug auf den Islam hatte er stets im Einklang mit Moskau gehandelt. Ein Beispiel aus dem Jahr 2015: Damals gab es eine grosse Demonstration in Grosny, die ebenfalls von Kadyrow angeregt worden war. Sie stand im Zusammenhang mit dem Anschlag auf die «Charlie Hebdo»-Redaktion. Man protestierte gegen Propheten-Karikaturen und den satirischen Umgang mit Religion. Russland teilte diesen Standpunkt weitgehend.
Kadyrow hat deutlich gemacht, dass er sich gegen die russische Aussenpolitik stellt, falls Moskau in der Frage der Rohingya-Verfolgung nicht klar Position bezieht.
Aber hier haben wir jetzt offenbar einen Dissens. Moskau hat bisher eher die offiziellen Stellen in Burma unterstützt und diese Unterstützung erst nach und nach etwas zurückgenommen. Kadyrow hat also deutlich gemacht, dass er sich gegen die russische Aussenpolitik stellt, falls Moskau in der Frage der Verfolgung der muslimischen Rohingya-Minderheit in Burma nicht klar Position bezieht.
Testet Kadyrow aus, wie weit er gehen kann gegenüber Putin?
Möglicherweise. Bislang hat er sich nicht gegen Putin gestellt, sondern sich als loyal ihm gegenüber bezeichnet. Wobei es immer ein merkwürdiges Verhältnis zwischen Moskau und Grosny war; zwischen der Machtvertikalen, die Putin in Russland errichtet hat, dem Rezentralisierungsprozess, der in Russland stattgefunden hat, und diesem kadyrowschen Privatstaat in Tschetschenien, in dem der Führer sein eigenes Ding macht und seine eigene Politik praktiziert.
Lässt sich das vielleicht damit erklären, dass Kadyrow für Ruhe in der russischen Teilrepublik sorgt und sich Putin nicht darum kümmern muss?
Ja, das ist der wesentliche Grund.
Kadyrow hat sich bislang nicht als bedingungsloser Beschützer von Muslimen hervorgetan. Welche Ambitionen hegt er damit?
Ganz so neu ist das nicht. Er hat sich schon seit einiger Zeit als ein Führer der Muslime in Russland, aber auch über Russland hinaus präsentiert. Er hat seine eigene Politik im Mittleren Osten verfolgt. Tschetschenien ist das einzige Föderationssubjekt in Russland, das eine eigene Aussenpolitik praktiziert.
Wenn die Krise in Burma religiös aufgeladen wird, könnte das auch zu Spannungen in Russland führen.
Könnte es sein, dass Kadyrow nun auch eine internationale Führungsrolle für Muslime übernehmen will?
Ja, das wird jetzt durchaus sichtbar. Er geht über seine regionale Führungsrolle in Tschetschenien und für die Muslime im Nordkaukasus offenbar schon hinaus. Es besteht auch die Gefahr, dass diese Rohingya-Krise, die massive Verfolgung einer muslimischen Volksgruppe in Burma, religiös aufgeladen wird und zu einem Konflikt zwischen Muslimen und Buddhisten hochstilisiert wird. Das würde nicht nur Südostasien betreffen, wo beide Religionen zusammentreffen. Sondern das würde auch Russland betreffen. Wir haben in Russland den Islam und den Buddhismus als offizielle, traditionelle Glaubensgemeinschaften neben der russisch-orthodoxen Kirche und dem Judaismus. Wenn die Krise in Burma nun religiös aufgeladen wird, könnte es auch zu Spannungen in Russland führen.
Spätestens dann würde es zu einer Herausforderung für Putins Innenpolitik.
Ja, und auch für die russische Aussenpolitik. Denn die Demonstrationen fanden zu einem Zeitpunkt statt, als Putin gerade mit dem chinesischen Führer zusammentraf. Und Burma liegt ja in der Sphäre der chinesischen Politik.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.