Aserbaidschanische Truppen seien in armenisches Territorium eingedrungen, nahe der Stadt Sisian, im Süden Armeniens, erklärt Benyamin Poghosyan, armenischer Politologe und Leiter des Eriwaner Zentrums für Strategiestudien.
Sie hätten Anhöhen eingenommen, von denen aus die Soldaten die wichtigste Verkehrsachse Südarmeniens überblicken könnten. Mit dem Ziel, die einzige Strasse zu kontrollieren, die von Armeniens Hauptstadt Eriwan in den Süden führt. Und um vielleicht als Nächstes die Strasse zu blockieren und Südarmenien vom Rest des Landes abzuschneiden – und dieses damit auch vom Iran.
Aserbaidschan erhöht den Druck
Das ist ein Schreckensszenario, das viele in Armenien seit langem befürchten. Aserbaidschan macht seit Monaten Druck auf Armeniens Grenzen und macht immer wieder Gebietsgewinne. Gleichzeitig wird in Verhandlungen heftigst darum gerungen, wie das Waffenstillstandsabkommen vom letzten November umgesetzt werden soll und wie ein Friedensplan aussehen könnte.
Für Politologe Poghosyan ist klar: Das Verhalten Aserbaidschans ist eine militärische Erpressung. Aserbaidschan wolle Armenien zwingen, seine wichtigsten Forderungen zu erfüllen: die Region Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans anzuerkennen und einem Verkehrskorridor zuzustimmen, der das aserbaidschanische Mutterland mit der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan verbinden würde.
Diese Verkehrsverbindung soll – nach der Vorstellung von Baku – ohne armenische Grenzkontrollen über Südarmenien führen. Doch das ist für Eriwan unvorstellbar. Denn es wäre ein zu grosser Kontrollverlust.
Ebenso undenkbar ist, die armenische Bevölkerung Berg-Karabachs der aserbaidschanischen Souveränität zu überlassen. Aserbaidschan wiederum wird ungeduldig und verweist, was den Korridor anbelangt, auf die Passage im Waffenstillstandsabkommen, in der von der Deblockierung regionaler Verkehrswege die Rede ist.
Verfahrene Situation
Was sind die Optionen für Eriwan? Es gebe leider nur wenige, meint Poghosyan. Man könne versuchen, dem Druck Aserbaidschans militärisch standzuhalten, um den Status quo zu verteidigen. Aber wenn das nicht gelinge, werde es eventuell bald zu einer weiteren Eskalation kommen.
Und mit jeder Eskalation rücke Aserbaidschan ein, zwei Kilometer vor, bis Armenien einknicke und auf die Forderungen eingehe. Oder bis Aserbaidschan mit Gewalt den gewünschten Korridor öffne.
Das klingt zwar nach Schwarzmalerei, aber der Experte weist zu Recht darauf hin, dass Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew damit gedroht hat, diesen Korridor zu erzwingen, wenn nötig mit Gewalt. Doch das würde Armeniens militärische Schutzmacht Russland kaum akzeptieren.
Übernimmt Russland die Kontrolle?
Denn das würde das Signal aussenden, dass Russland nicht in der Lage sei, seinen Verbündeten zu schützen. Und dieses Mal geht es um armenisches Kernland, nicht um ein Gebiet wie Berg-Karabach.
Russland wolle sich aber auch nicht mit der Türkei, Aserbaidschans Schutzmacht, militärisch anlegen. Deshalb kommt noch eine Lösung ins Spiel: Dass Russland die Kontrolle über diesen Verkehrskorridor übernimmt. Das aber würde die Souveränität Armeniens einschränken.
Es wäre nicht die beste Option, aber man müsse bedenken, was die Alternative wäre, so Poghosyan. Diese wäre, gezwungen zu werden, sich den Bedingungen von Baku zu beugen. Düstere Aussichten für Armenien. Aber eines ist klar: Solange sich kein anderer starker Akteur engagiert, wird Russland über Krieg und Frieden entscheiden.