Auf den ersten Blick scheint ein Ende des Konflikts im Osten der Ukraine so greifbar wie nie zuvor. Die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodimir Selenski unterstützt seit gestern offiziell die sogenannte «Steinmeier-Formel». Diese beinhaltet einen vorläufigen Sonderstatus für die beiden Regionen Luhansk und Donezk sowie Lokalwahlen nach den Standards der OSZE. Doch die schwierigsten Fragen sind mit der gestrigen Einigung noch nicht beantwortet.
Unklare Umsetzung der Formel
Hinter den Kulissen sind sich die von Russland unterstützten Separatisten und die Ukraine in den entscheidenden Fragen, wie die «Steinmeier-Formel» umgesetzt werden soll, nicht einig. Entsprechend wenig konkret äusserte sich Selenski an einer kurzfristig angekündigten Pressekonferenz, dass bei der Umsetzung der «Steinmeier-Formel» keine rote Linie überschritten werde.
In zwei Punkten bezog der ukrainische Präsident allerdings klar Stellung: Wahlen könnten erst dann stattfinden, wenn alle Truppen vor Ort abgezogen worden sind und die Ukraine wieder über alle Abschnitte der Landesgrenze die Kontrolle habe.
Schwierige Verhandlungsfragen
Während es bezüglich des Truppenabzugs gestern erneut Anzeichen gab, dass die Forderung tatsächlich umgesetzt werden könnte, so dürfte die Grenzkontrolle zähe Verhandlungen auslösen. Denn ein Abkommen von 2015 zwischen der Ukraine, Russland, und den von Russland unterstützten Separatisten, schliesst die Übergabe der Grenze an die ukrainische Regierung vor der Durchführung von Lokalwahlen eigentlich aus.
Doch es herrscht nicht nur in entscheidenden Umsetzungsfragen keine Einigung. Auch in der ukrainischen Innenpolitik gibt es über die Zustimmung zur «Steinmeier-Formel» ganz grundsätzliche Differenzen. Kaum überraschend demonstrierten gestern Abend mehrere hundert Personen, auf dem Maidan und vereinzelt in anderen Städten der Ukraine gegen die Zustimmung zur «Steinmeier-Formel». Unter ihnen befanden sich Nationalisten und Unterstützer des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko. Sein Nachfolger Selenski hat in seiner bisherigen Amtszeit jedoch mehrmals bewiesen, dass er zu schwierigen Kompromissen in Verhandlungen mit Russland bereit ist, trotz Widerstand innerhalb des Landes.
Kein Platz für Kapitulation
Russland habe Interesse an einem Ende des Konfliktes, soll der russische Aussenminister Sergej Lawrow gegenüber Wolodimir Selenski am Rande der UNO-Generalversammlung vergangene Woche erklärt haben. Der aussen- und innenpolitische Druck auf Selenski ist aber um ein vielfaches grösser, während sein Handlungsspielraum eingeschränkt ist.
Russland weiss um die Lage des ukrainischen Präsidenten. Während dieser gestern erklärte, die Ukraine werde nicht kapitulieren, kündigten die selbst erklärten Regierungen von Donezk und Luhansk heute bereits Widerstand gegen die Bedingungen der ukrainischen Regierung an. Ein Ende des Konfliktes in der Ostukraine wird erst dann absehbar, wenn sich die Parteien über die entscheidenden Details einig werden. Die Chancen sind gross, dass die Ukraine dabei die grössten Zugeständnisse machen muss.