SRF News: Weshalb haben die Nationalisten derart deutlich gewonnen?
Charles Liebherr: Zwei Gründe haben dieses deutliche Wahlresultat möglich gemacht. Zum einen sind die alten, etablierten Parteien völlig in Misskredit geraten. Die Nationalisten verkörpern die politische Erneuerung. Zum anderen haben die Nationalisten den radikalen Flügel ruhigstellen können. Dieser verzichtete vor drei Jahren offiziell auf Gewalt als politisches Mittel. Beides zusammen ermöglichte es den Wählerinnen und Wählern, den Nationalisten eine Chance zu geben.
Warum folgen die Korsen nicht dem Beispiel der Katalanen und streben die komplette Unabhängigkeit an?
Die Ausgangslage ist eine ganz andere. Die französische Verfassung kennt noch keine föderalen Strukturen. Da wäre erst eine Verfassungsänderung nötig. Und Korsika ist wirtschaftlich viel zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das wissen die Nationalisten und darum ist die Abspaltung von Frankreich auf längere Sicht kein Thema.
Bisher hatten die jeweiligen Zentralregierungen in Paris kaum Gehör für die korsischen Autonomiewünsche. Warum soll das diesmal anders sein?
Die Nationalisten haben ihr Volk im Rücken. Diese Wahlen haben ihnen ein deutliches Mandat gegeben. Korsika ist aber auch schon ein Sonderfall. Erstmals überhaupt in Frankreich werden die Regionen und das Departement zusammengelegt.
Korsika ist wirtschaftlich viel zu schwach um auf eigenen Beinen zu stehen, das wissen die Nationalisten.
Das ist einmalig und somit auch eine einmalige Chance effizientere Strukturen zu etablieren. Die Regierung tut gut daran, dieses Experiment nicht sterben zu lassen. In Paris weiss man natürlich, dass nun Kompromisse nötig sind. Ansonsten werden die radikalen Kräfte schnell wieder erwachen.
Das Wahlprogramm der Nationalisten beinhaltet einen genauen Autonomie-Fahrplan. Was sind darin die für Paris heikelsten Punkte?
Also eigentlich ist alles heikel. Besonders heikel ist aber die Frage der Rückführung korsischer Untergrundkämpfer von Gefängnissen auf dem Festland nach Korsika. Das ist auch eine sehr symbolische Frage. Heikel ist auch die Frage der korsischen Sprache, welche als Amtssprache eingeführt werden soll. Allein schon die Übersetzung der Gesetze ins Korsische wäre finanziell nicht tragbar und würde fast die Hälfte der Bevölkerung für Jahre beschäftigen. An diesen beiden Punkten werden sich die Verhandlungsführer die Zähne ausbeissen.
Wie gross ist der Spielraum für Verhandlungen?
Es gibt Spielraum, weil es eben Spielraum geben muss. Pragmatisch betrachtet erlaubt Korsika doch einige Experimente, wie die Aufgabenteilung zwischen Zentralstaat und einer Region sein könnte. Zumal Korsika auch wirklich ein Spezialfall ist.
Es gibt Spielraum, weil es eben Spielraum geben muss.
Es ist eine Insel, die zu einem grossen Teil vom Tourismus lebt. Ich rechne damit, dass die Bereitschaft für Kompromisse grösser ist, als in der Frage des Baskenlandes und der Bretagne oder des Elsass, die ja auch mehr Autonomie wünschen.
Die Wahlbeteiligung betrug nur 44 Prozent. Steht also die korsische Bevölkerung wirklich mehrheitlich hinter den Autonomiebestrebungen?
Ja, die Wahlbeteiligung war so tief, weil sich die Korsen nicht für Politik interessieren, sondern weil die Ausgangslage klar war. Zudem wurde seit zwei Jahren vier Mal immer mit dem gleichen Resultat gewählt. Eine Mehrheit der Korsen wünscht sich mehr Autonomie und versteht sich als ein besonderer Inselstaat.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.