SRF News: Die linksextreme Gewalt habe in Hamburg eine neue Dimension erreicht, sagen viele Beobachter. Sehen Sie Parallelen zu den Unruhen in den 1970er- und 1980er-Jahren?
Armin Pfahl-Traughber: Eigentlich nicht. Wir haben es mit einem anderen Phänomen als der Rote Armee Fraktion, den Revolutionären Zellen oder dem Kommando 2. Juni von damals zu tun. Heute geht es um relativ spontane Strassengewalt – die gleichwohl auch vorbereitet ist. Sie hat eine ganz andere Dimension als eine terroristische Gewalt. Ich sehe bei den Ausschreitungen in Hamburg auch keine neue Eskalationsstufe. Autonome neigen grundsätzlich zu Gewalt und nutzen häufig solche Events, um sie eskalieren zu lassen.
Autonome neigen grundsätzlich zu Gewalt.
Wird das Gefahrenpotenzial linksextremer Kreise unterschätzt?
Aus Gesprächen mit unterschiedlichen Menschen hab ich oft den Eindruck, dass man diese Autonomen für junge Idealisten hält, die ab und an mal über die Stränge schlagen. Das ist einfach ein naives Zerrbild von dem Phänomen, um das es hier geht. Die Autonomen gehen mit Positionen an die Öffentlichkeit, die nicht negativ behaftet sind: Man kann die G20 sehr wohl für ihre Politik kritisieren, man kann sehr wohl gegen Rechtsextremismus, Neoliberalismus, Repressionspolitik oder soziale Ungerechtigkeit sein. Aber linksextreme Kreise versuchen mit diesen Themen, extremistische Politik und militantes Vorgehen zu legitimieren.
Vielen Menschen fällt es leichter, sich von rechtsextremer als von linksextremer Gewalt zu distanzieren?
Ja, das sehe ich auch so. Es gibt einen grossen Konsens, gegen rechtsextremistische Gewalt zu sein. Aber wegen der Gemeinsamkeiten in den Themen und den Positionen haben vor allem Linke Mühe, sich klar von linksextremistischer Gewalt zu distanzieren. Umgekehrt versucht die autonome Szene, eine solche Distanzierung zu verhindern. Das zeigt etwa der Spruch, der dort kursiert: Friedlich oder militant, wichtig ist der Widerstand. Es ist aber eine merkwürdige Dimension von Toleranz, wenn Gewalt gegenüber Toleranz eingefordert wird.
Wegen der Gemeinsamkeiten in den Themen und den Positionen haben vor allem Linke Mühe, sich klar von linksextremistischer Gewalt zu distanzieren.
Wie müssten die linken Politiker jetzt reagieren?
Sie müssten deutlich machen, dass sie mit Extremisten nichts zu tun haben wollen und jegliche Kooperation mit ihnen verhindern. Die Gewalt der Autonomen ist auch ein Problem für die Protestbewegungen, was man auch in Hamburg gesehen hat: Niemand spricht über die legitime Kritik an der G20-Politik. Es gibt nichts Schädlicheres für linke, demokratische Protestbewegungen als die Gewalttaten von Autonomen. Und das ist in diesem Spektrum noch nicht genügend anerkannt worden.
Sind die jungen Krawallmacher überhaupt politisch motiviert?
Ich sehe die autonome Szene sehr wohl als politisch an. Sie hat aber ein anderes Politikverständnis als viele andere Menschen. Sie tritt nicht für ein bestimmtes Programm oder eine bestimmte Zielsetzung ein, sondern sie wird in erster Linie von einer Anti-Haltung geprägt – gegen den Staat, gegen Repression, gegen den Kapitalismus. Was sie Positives will, ist jedoch unklar.
Hat man in den letzten Jahren zu wenig in die linke Ecke geschaut?
Weil es im Linksextremismus vielleicht nicht ein solches Gefahrenpotenzial gibt wie im Islamismus oder Rechtsterrorismus, hat man das vielleicht einfach ein bisschen hingenommen und schleifen lassen – auch weil manche Forderungen der Autonomen ja durchaus weder moralisch noch politisch verwerflich sind. Nichts von dem, was in Hamburg passiert ist, ist aber wirklich überraschend. Experten hatten schon Wochen zuvor auf mögliche Ausschreitungen in Hamburg hingewiesen.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.