Ärzte der Berliner Charité haben über den Gesundheitszustand von Alexej Nawalny informiert: Sie gehen davon aus, dass der Kremlkritiker vergiftet wurde.
Hat die medizinische Diagnose handfeste politische Folgen? An Berlins leisetreterischem Umgang mit Putins Russland dürfte sich wenig ändern, glaubt Deutschland-Korrespondent Peter Voegeli. Und auch im Kreml dürfte es vorerst ruhig bleiben, so Russland-Korrespondent David Nauer.
SRF News: Gibt es bereits Reaktionen aus Russland?
David Nauer: Ein kremlnaher Parlamentarier meinte, das Ganze sei eine Show und ein Versuch, Nawalnys Erkrankung zu skandalisieren. Das scheint die offizielle Verteidigungslinie zu sein: Der Fall soll allen Fakten zum Trotz heruntergespielt werden.
Anders sehen das Nawalnys Anhänger. Seine Sprecherin teilte mit, man habe von Anfang an gesagt, Nawalny sei vergiftet worden. Jetzt sei es von unabhängigen Laboren bestätigt worden. Eine Genugtuung, wenn auch eine bittere.
Wie wird Deutschland mit der heiklen Frage umgehen, wer den Kremlkritiker vergiftet hat?
Peter Voegeli: Insbesondere Aussenminister Heiko Maas – aber Deutschland generell – bleiben oft sehr leisetreterisch gegenüber Moskau. Berlin will das Verhältnis zu Russland nicht noch weiter belasten und scheut deshalb eine klare Sprache.
Es gab Fälle, in denen die Indizien, dass der russische Staat dahinter steckte, klarer waren. Dazu kommt der Ukraine-Konflikt und das Wahlergebnis in Weissrussland, das Berlin nicht akzeptiert. Wie steht es aktuell um die deutsch-russische Beziehung?
Schlecht. Der Fall Nawalny dürfte die Beziehungen aber nicht noch weiter verschlechtern – Berlin will das vermeiden. Wenn Nawalny in Russland vergiftet wurde und in Deutschland medizinisch versorgt wird, ist das Präsident Putin wahrscheinlich egal. Für ihn ist etwas anderes entscheidend: Nämlich, dass Deutschland durch alle Böden an der Gaspipeline Nordstream 2 festhält – und sich damit nicht nur mit den USA anlegt, sondern auch Polen und die baltischen Staaten vor den Kopf stösst. Notabene Mitglieder der EU.
Wichtig ist für Moskau auch, dass Berlin über den «Tiergarten-Mord» nur peinlich berührt zu sein scheint und lediglich zwei Diplomaten ausgewiesen hat. Dieser Mord geschah zweieinhalb Kilometer vom Pult der Kanzlerin entfernt im Herzen von Berlin. Er war nach Ansicht des Generalbundesanwalts ein Auftragsmord der russischen Regierung. Bislang war die deutsche Reaktion praktisch Null. Das sind die entscheidenden Signale an Putin.
Warum diese Zurückhaltung gegenüber Russland?
Die deutsche Politik hat kein rationales, sondern ein emotionales Verhältnis zu Russland – obwohl Politik vorteilsweise nicht emotional sein sollte. Grund sind die deutsche Schuld des Zweiten Weltkriegs mit 27 Millionen Toten allein in der Sowjetunion – aber auch die «russische Seele», die man in Deutschland liebt.
Deutschland sieht sich traditionell als Brücke zwischen Ost und West – allerdings auch auf Kosten der osteuropäischen Staaten zwischen Berlin und Moskau.
Das geht zurück bis zu Reichskanzler Otto von Bismarck im 19. Jahrhundert, der mit seinen «Rückversicherungsverträgen» ein System der Äquidistanz der Mächte geschaffen hat und als ehrlicher Makler auftrat. Deutschland sieht sich traditionell als Brücke zwischen Ost und West – allerdings auch auf Kosten der osteuropäischen Staaten zwischen Berlin und Moskau.
Wie kommt die deutsche Zurückhaltung in Russland an, David Nauer?
Natürlich merken die Russen, dass die Deutschen eine offene Konfrontation meiden – auch im Konfliktfall. Vor allem der Kreml nimmt deutsche Politiker deswegen auch nicht ganz ernst, weil sie nicht so kernig auftreten, wie die Russen es selber gerne tun. Gleichzeitig schätzen die Russen die deutsche Freundlichkeit. Das schlägt sich etwa darin nieder, dass es im russischen Staatsfernsehen nie Propagandasendungen gegen Deutschland gibt – ganz im Gegensatz etwa zu Polen, der Ukraine oder den USA. Die Russen haben also ein ambivalentes Verhältnis zu Deutschland.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.