Kein Haus in Njeskutschnje im Südosten der Ukraine ist unversehrt geblieben. Bereits in den ersten Wochen des Angriffskrieges wurde die Ortschaft von der russischen Armee besetzt. Njeskutschnje gehört zu den wenigen Ortschaften, die im Verlauf der aktuellen Gegenoffensive durch die ukrainische Armee befreit werden konnten. Von den wenigen hundert Einwohnern ist niemand mehr vor Ort. Die Stille im Ort wird nur von dumpfen Explosionen in der Ferne unterbrochen.
Verlorene Zeit
Die heftigsten Kämpfe tobten rund um das Schulhaus im Ort. In den Klassenzimmern hatte die russische Armee einen Gefechtsstand eingerichtet. Um vor Beschuss besser geschützt zu sein, haben die russischen Soldaten im Gebäude Schützengräben ausgehoben. Mit US-HIMARS-Raketen hat die ukrainische Armee dem russischen Gefechtsstand in Njeskutschnje einen ersten schweren Schlag versetzt, bevor der Beschuss durch Artillerie und schliesslich der Sturm durch die ukrainische Armee die Russen zum Rückzug zwang.
Je schneller Waffen geliefert werden, desto schneller ist der Krieg zu Ende und desto kleiner die Eskalation. Je weniger Waffen geliefert werden, umso länger wird der Krieg andauern und umso grösser die Eskalation.
Die Vorbereitung der russischen Armee ist aus Sicht von Alina Frolowa vom Zentrum für Verteidigungsstrategien Grund für den zähen Fortschritt der ukrainischen Gegenoffensive. «Wir gaben den Russen Zeit, um vorbereitet zu sein. Weil wir zu wenig Ausrüstung und zu wenig Munition hatten. Während wir uns ausrüsteten, haben die Russen die ganze Frontlinie vermint und Verteidigungslinien errichtet.»
Kampf für das eigene Zuhause
Unweit der Ortschaft zeigt uns die ukrainische Armee, wie sie die russischen Positionen weiter südlich unter Beschuss nimmt. Dabei kommen auch Waffen aus älteren Beständen zum Einsatz, wie uns der ukrainische Soldat mit dem Kampfnamen Kalmius erzählt: «Obwohl dieses Mehrfachraketenwerfersystem älter als 40 Jahre ist, erfüllt es seine Aufgabe noch immer sehr gut.»
Ursprünglich stammt der Artillerist aus jenem Gebiet der Region Donezk, welches seit 2014 von Russland kontrolliert wird. Die Befreiung der besetzten Gebiete ist für ihn von grosser, persönlicher Bedeutung.
Eine Frage der Bewaffnung
Insgesamt neun Kilometer ist die ukrainische Armee in der Gegend von Njeskutschnje vorgerückt. Es ist der bisher grösste Vorstoss der ukrainischen Armee seit Beginn der Gegenoffensive Anfang Juni. Auf die Ukraine werde nicht direkt Druck ausgeübt, aber unter sich würden westliche Verbündete sich über das bisherige Tempo der Gegenoffensive beschweren, erzählt der Berater des ukrainischen Präsidialamtes, Mychajlo Podoljak.
Der Schlüssel liegt aus seiner Sicht bei den Waffenlieferungen: «Je schneller Waffen geliefert werden, desto schneller ist der Krieg zu Ende und desto kleiner die Eskalation. Je weniger Waffen geliefert werden, umso länger wird der Krieg andauern und umso grösser die Eskalation.»
Kampf um Ressourcen
Für 37 Ortschaften in der Region Kupjansk im Nordosten des Landes wurde diese Woche eine Zwangsevakuierung angekündigt, weil die russische Armee an diesem Frontabschnitt immer häufiger zivile Ziele angreift. Die Evakuierung würde kein Verschieben der Front bedeuten, ist Mychajlo Podoljak überzeugt. «Unsere Aufgabe ist es, die russische Armee zu vernichten, vor der gestern noch alle Angst hatten. Wir werden es tun. Russland wird militärisch keine Bedrohung mehr darstellen.»
Dafür bezahlt die Ukraine einen kaum vorstellbaren Preis. Offiziell starben bei der Befreiung von Njeskutschnje sechs ukrainische Soldaten. Doch die Zahl der tatsächlichen Todesopfer dürfte bei einem Kampf um jedes Haus deutlich höher sein.