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Waffenruhe im Nahen Osten «Neue Verlängerung der Feuerpause ist eher unwahrscheinlich»

Die israelische Regierung und die Terrororganisation Hamas haben sich auf die Verlängerung der Feuerpause um einen Tag geeinigt. Premier Netanjahu will die Hamas weiterhin vernichten und den Gazastreifen «entradikalisieren». Doch die ganz grosse Aufgabe stehe erst danach an, sagt Nahostexperte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. 

Guido Steinberg

Islamwissenschaftler an der SWP Berlin

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Steinberg ist Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Bis 2005 arbeitete er als Terrorismusreferent für die deutsche Regierung. Jetzt forscht er zur Politik des Nahen Ostens und zum islamistischen Terrorismus.

SRF News: Die Feuerpause gilt noch, und es gibt einen weiteren Austausch von Geiseln gegen Gefangene. Wie könnte es weitergehen?

Guido Steinberg: Die Austauschaktion wird vermutlich nicht mehr lange fortgeführt werden. Die Verlängerung der Feuerpause wurde erst kurz vor Ablauf der Frist erreicht. Es ist zu erwarten, dass es in den nächsten Tagen keine Einigungen mehr geben wird und die Kampfhandlungen sehr schnell wieder beginnen.

Wird Israel nach dem nördlichen Gazastreifen den Süden ins Visier nehmen?

Das israelische Militär wird die Kampagne im Norden wahrscheinlich noch für längere Zeit fortsetzen. Denn in einigen Ortschaften wurden problematische Viertel bisher nur umzingelt. Danach warten im Süden die wirklich anspruchsvollen militärischen Aufgaben. Denn dort soll die Führung der Hamas sitzen und dort sind die allermeisten Kämpfer sowie die überwiegende Mehrheit der Zivilbevölkerung. Wenn Israel da vorstösst, wird es auf allen Seiten wohl noch viel mehr Tote geben.

Wird Israel die Hamas besiegen?

Das kann Israel natürlich. Die Hamas hat vielleicht 20'000 Kämpfer, wovon schon bis zu 3000 gefallen sein dürften. Die grossen Aufgaben warten auf Israel aber erst nach einem Ende des Kampfes. Denn die Hamas ist viel mehr als eine Terrororganisation. Sie ist eine soziale Bewegung mit eventuell Hunderttausenden von Unterstützern. Nach der Einnahme des Gazastreifens wird die Hamas versuchen, im Untergrund zu überleben und neu zu rekrutieren und zu bewaffnen. Das wird die Hamas vermutlich ohne grosse Probleme schaffen.

Kann Israel die Hamas als soziale Bewegung zerstören?

Nein. Israel kann zwar verhindern, dass diese soziale Bewegung im Gazastreifen humanitäre Angebote macht und Schulen und Spitäler unterhält, was ihr schon sehr viel Unterstützung in der Bevölkerung einbrachte. Aber Israel kann nicht verhindern, dass sich die Menschen weiterhin als Teil dieser Bewegung sehen und eine Art Rekrutierungspool liefern.  

Gaza Stadt.
Legende: Gaza Stadt am 29.November 2023. imago images/Xinhua/Mohammed Ali

Um eine Besatzungsmacht zu bekämpfen, braucht es lediglich ein paar tausend Kämpfer und Waffen und eine gewisse Organisation. Zwar kann es dauern, bis die Hamas nach einer militärischen Niederlage wieder erstarkt. Aber sie wird Israel weiter bekämpfen.

Wie sehen die Zukunftsszenarien aus?

Erstens eine israelische Wiederbesetzung des Gazastreifens. Zweitens die Übernahme der Verantwortung für die Sicherheit durch die Palästinenserregierung aus Ramallah von Präsident Abbas. Drittens ist die Rede von internationalen Truppen oder internationaler Polizei.

Realistisch ist aber nur das Wiederbesetzungsszenario. Denn die Abbas-Regierung ist äusserst schwach und unbeliebt. Sie würde nicht auf dem Rücken israelischer Panzer in den Gazastreifen einfahren und sich von der Hamas bekämpfen lassen. Ägypten, Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate, die mit Israel Frieden geschlossen haben, sind nicht daran interessiert, internationale Truppen zu entsenden. Somit werden die Israelis wohl viel länger und mit viel mehr Militär im Gazastreifen bleiben müssen. Ein wirklich stichhaltiges Konzept für die Zeit danach hat Israel offenbar nicht.

Das Gespräch führte Romana Kayser.

Die Glückskette sammelt

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Legende:

Der Krieg im Nahen Osten hat bereits Tausende von Menschenleben gekostet, grösstenteils Zivilpersonen. Die Glückskette ruft zur Solidarität auf, um der Zivilbevölkerung zu helfen. Sie unterstützt ihre Schweizer Partnerorganisationen vor Ort – sie hilft dort, wo die humanitären Bedürfnisse am grössten sind.

Spenden für die Sammlung «Humanitäre Krise im Nahen Osten» können auf www.glueckskette.ch getätigt werden.

SRF 4 News aktuell, 30.11.2023, 07:19 Uhr ; 

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