Der Krieg in Afghanistan ist weltweit einer der blutigsten. Bisher wurden die meisten Zivilisten von den Taliban und anderen dschihadistischen Gruppen getötet.
Doch im ersten Vierteljahr 2019 sah es anders aus: Afghanische Sicherheitskräfte und Nato-Truppen haben erstmals mehr Todesopfer auf dem Gewissen. Das wirft neue Fragen auf zum umstrittenen Truppeneinsatz am Hindukusch.
Zahl der Gewalttaten nimmt ab
Die gute Nachricht: Gemäss neuesten Zahlen der UNO war die Zahl der Gewalttaten in Afghanistan in den vergangenen Monaten rückläufig – verglichen mit derselben Periode in den Vorjahren. Vor allem, weil die Taliban weniger Terroranschläge verübt haben.
Weshalb das so ist, lässt sich nur vermuten: Es kann am garstigen Winter liegen, der Kampfhandlungen behinderte. Oder daran, dass die Islamisten immer weitere Teile des Landes ohnehin kontrollieren, also dort keine Sprengsätze mehr zünden. Oder daran, dass die geplanten Friedensverhandlungen zu einer Beruhigung führen.
Steigende Anzahl an zivilen Opfern
Die schlechte Nachricht hingegen lautet: Pro-Regierungskräfte, zu denen auch die Nato-Truppen gehören, haben zwischen Januar und Ende März erstmals mehr Zivilisten getötet als die Dschihadisten. 305 Tote gegenüber 227. Bei der Zahl der Verletzten ist das Verhältnis allerdings umgekehrt.
Der afghanische Präsident Aschraf Ghani argumentiert damit, die Kämpfer der Taliban und des sogenannten Islamischen Staat würden sich in Privathäusern, Schulen und Spitälern verschanzen und seien somit die eigentlichen Schuldigen dafür, dass es so viele zivile Tote gebe. Das trifft zu – ist aber kein neues Phänomen. Es entsprach immer schon der menschenverachtenden Taktik der Islamisten.
Die Nato beteuert, sie gebe sich allergrösste Mühe, durch Präzisionsschläge zivile Opfer zu vermeiden. Tatsache aber ist: Offenbar gelingt das allzu oft nicht. Der US-Sonderemissär für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, drückt sein Bedauern über diese von der UNO dokumentierte Entwicklung aus.
«Kollateralschäden» irritierend hoch
Richtig ist: Taliban, IS oder Al-Kaida greifen ganz bewusst Zivilisten an. Die Regierungstruppen und die Nato hingegen versuchen, zivile Opfer zu vermeiden. Doch die Zahl der sogenannten «Kollateralschäden» ist irritierend hoch. Anscheinend sind die afghanischen Sicherheitskräfte ihrer Aufgabe trotz jahrelanger Ausbildung und Beratung durch westliche Militärs nicht gewachsen.
Aber auch auf Nato-Seite mangelt es vor Luftangriffen an hinreichend sorgfältigen Vorabklärungen, um zu verhindern, dass dabei Zivilisten umkommen.
Nato-Mission wird in Frage gestellt
Für die afghanische Regierung und ihren Unterstützer, die Nato, sind die jüngsten Zahlen der UNO-Afghanistanmission Unama verheerend. Sie untergraben die Glaubwürdigkeit der nationalen Sicherheitskräfte. Und sie verringern den Rückhalt für den Einsatz der Nato am Hindukusch gewaltig: Sowohl in der afghanischen Bevölkerung als auch bei den Bürgern all jener westlichen Länder, die in Afghanistan Truppen stellen.
Die Nato-Mission, die in den Augen mancher ohnehin schon viel zu lange dauert und viel zu wenig erfolgreich ist, wird nun erst recht infrage gestellt.