Als Machthaber Alexander Lukaschenko letzten Freitag kurzfristig zu einem Treffen mit Kreml-Chef Wladimir Putin flog, sahen das manche als böses Omen. Es wurde vermutet, die belarussische Armee stehe kurz davor, an der Seite von Russland in den Krieg einzugreifen.
Das ist vorerst nicht geschehen. «Lukaschenko möchte unbedingt vermeiden, dass seine Armee direkt am Krieg teilnimmt, denn das wäre sehr unpopulär bei der Bevölkerung», sagt Vadim Moschejko vom Belarussischen Institut für Strategie-Forschung BISS. Vor allem bei Lukaschenkos Anhängerschaft, wo er sich als Präsident des Friedens und Garant für Stabilität inszeniere.
Volk will mehrheitlich neutrale Haltung
Tatsächlich will das belarussische Volk laut Umfragen mehrheitlich, dass sich sein Land neutral verhält. Ebenso unklar sei, wie die belarussische Armee auf einen Kriegsbefehl reagieren würde, erklärt Moschejko. Denn das sei das Gegenteil von dem, was Lukaschenko bisher versprochen habe: «Lukaschenko liebt es, sich bei Putin mit schönen Worten einzuschmeicheln, handeln aber will er nicht.»
Wenn Putin nachdrücklich verlangt, dass Belarus in den Krieg zieht, kann sich Lukaschenko kaum widersetzen.
Doch Lukaschenko hat sich dem Kreml angedient, denn nicht nur sein politisches Überleben, sondern auch die Wirtschaft hängt zu einem grossen Teil von Russland ab. Zugleich läuft der Krieg nicht nach Putins Plan, der Kreml sieht sich nach Verstärkung um. «Wenn Putin nachdrücklich verlangt, dass Belarus in den Krieg zieht, kann sich Lukaschenko kaum widersetzen.»
Unsicherheitsfaktor Armee
Wie das belarussische Militär reagieren würden, sei schwierig zu sagen. Vermutlich werde die Armeeführung versuchen, den Befehl Lukaschenkos auszuführen. Wie sich Offiziere und Soldaten verhalten würden, sei völlig unklar. Zudem sei eine unmotivierte Armee sehr ineffizient, so der Politbeobachter. Es bestehe sogar das Risiko, dass einige zu den Ukrainern überlaufen würden.
Die belarussische Propaganda stilisiere zudem die Ukraine viel weniger zum Feindbild herauf als die russische. Thematisiert werde vor allem das Chaos im Nachbarland im Gegensatz zur eigenen Stabilität, berichtet Moschejko.
Grosse Angst vor den Russen
Ausserdem unterhielten Belarus und die Ukraine in den letzten Jahren enge Beziehungen und sahen sich als strategische Partner. Dass inzwischen russische Truppen in Belarus sind, jagt den Menschen nach den Worten von Moschejko grosse Angst ein. Besonders schlimm sei, dass jeder Protest von den eigenen Sicherheitskräften brutal unterdrückt werde.
Es gab in den letzten Wochen Sabotageakte vor allem am belarussischen Eisenbahnnetz, um das Vorankommen russischer Militärausrüstung zu behindern. Doch Sabotage werde als Terrorismus hart geahndet. Deshalb könne das kaum eine grosse Dynamik entfalten, so der Experte.
Fluchtbewegung in Belarus
Aus Furcht vor einer Mobilisierung verlassen zahlreiche junge Männer Belarus. Eine Fluchtbewegung ins Landesinnere gibt es auch von grenznahen Städten im Süden, weil dort russische Truppen neben Wohnhäusern Raketen in die Ukraine feuern. Moschejko: «Die Menschen haben Angst, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung.»
Und schliesslich sind zahlreiche belarussische Freiwillige für die Ukraine in den Krieg gezogen, darunter viele Oppositionelle, die in der Ukraine Zuflucht fanden. Es soll sogar eine belarussische Einheit unter ukrainischem Kommando geben. Tritt Belarus in den Krieg ein, würden belarussische Freiwillige gegen belarussische Soldaten kämpfen. Belarus ist zur Geisel seiner Führung geworden, die sich dem Kreml ausgeliefert hat.