Das Ende des Winters naht, der Tag der russischen Invasion in die Ukraine jährt sich bald zum ersten Mal. Während die Ukraine weite Teile der von Russland zeitweise eroberten Gebiete zurückerobert hat, scheint sich das Kriegsgeschehen zuletzt etwas gedreht zu haben. Regelmässig ist sogar von einer russischen Offensive die Rede, welche – so war es zumindest aus ukrainischen Kreisen vernehmbar – noch in diesem Monat stattfinden könnte.
Könnte es tatsächlich zu grossräumigen russischen Angriffen kommen? Oder gibt es andere Szenarien, welche wahrscheinlicher sind? Niklas Masuhr, Militäranalyst an der ETH Zürich, im Gespräch.
SRF News: Kommt es in der Ukraine bald zur grossen russischen Offensive?
Niklas Masuhr: Das ist nicht auszuschliessen, aber ich erachte dieses Szenario als unwahrscheinlich. Aber möglicherweise sprechen wir eher über intensivierte Offensivbemühungen entlang der Front anstelle eines zentralen Vorstosses
Ich wäre skeptisch, dass Russland von belarussischem Staatsgebiet aus angreift.
Zudem haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten beide Kriegsparteien an den Frontlinien zunehmend konsolidiert. Skeptisch wäre ich auch, dass Russland von belarussischem Staatsgebiet aus angreift. Es könnte für den Kreml vorteilhafter sein, die gegnerischen Truppen im Norden zu binden, ohne von dort zuzuschlagen.
Bedeutet dies, dass grössere Gebietsgewinne schwierig sein werden?
Davon kann man ausgehen. Ich bezweifle beispielsweise stark, dass die russische Armee in der Region Cherson grössere Gebiete zurückerobert. Dazu müsste sie den Dnipro überqueren, doch der Fluss ist eine Barriere.
Auch im Donbass sehe ich keinen gewaltigen russischen Vormarsch – selbst wenn die stark umkämpfte Stadt Bachmut eingenommen wird. Derzeit scheint die ukrainische Armee dort nicht ihre stärksten Truppen zu haben.
Russland scheint an Momentum gewonnen zu haben.
Das stimmt. Allgemein stellt sich die Frage, wie gross das jeweilige Offensivpotenzial derzeit tatsächlich ist, viele Daten können wir nur erahnen. Bei Russland ist die grosse Unbekannte, inwiefern die 150'000 Soldaten, welche im vergangenen Herbst eingezogen und bisher nicht an die Front geschickt wurden, einsatzbereit sind.
Auch hinsichtlich Munitionsreserven können wir nicht quantifizieren. Russland muss aber nicht unbedingt Geländegewinne machen, um erfolgreich zu sein.
Wie meinen Sie das?
Weil Verluste sich auf das Gesamtsystem auswirken. Grundsätzlich müssen Truppen aufgeteilt werden: Ein Anteil der Armee ist jeweils im Kampf, in der Ausbildung und im Erholungszustand beziehungsweise wird neu ausgerüstet. Das bedeutet: Wenn viele ukrainische Armeeangehörige nun beispielsweise an westlichen Panzerfahrzeugen ausgebildet werden, fehlen sie im Gefecht. Bei hohen Verlusten müssen unzureichend ausgebildete und übermüdete Soldaten wieder in den Kampf. Dies würde sich negativ auf ukrainischen Gegenoffensiven auswirken.
Die russische Invasion in die Ukraine jährt sich bald zum ersten Mal. Wie lange könnte der Krieg noch dauern?
Er könnte uns noch Jahre beschäftigen. Doch wir dürfen nicht vergessen: Der Krieg dauert bereits mehrere Jahre. Er hat mit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim begonnen, dann kam die Intervention russischer Einheiten in der Ostukraine. Die Intensität ist mit der Invasion vor einem Jahr natürlich dramatisch gestiegen.
Das Gespräch führte Pascal Studer.