Der bald 60-jährige Adam Vojtenko (Name geändert) aus der russisch besetzten Stadt Melitopol, war wegen seines Herzleidens auf dem Weg ins Spital. Er setzte sich in einen Bus, der wenig später von russischen Militär- und Polizeikräften angehalten wird. Vojtenko wird herausgezogen. Freunde, die zufällig vorbeifahren, sehen ihn, am Strassenrand stehend, zum letzten Mal. Seit Ende März sei er verschwunden, erklärt seine Tochter. Seine Gesundheit und Medikamente, die er nehmen muss, sind ihre grösste Sorge.
Das Motiv ist unklar. Vojtenko habe nie eine Waffe angefasst und lediglich als militärischer Freiwilliger in der Donbassregion vor Jahren geholfen, den Notstand dort zu lindern, sagt die Tochter. Nach der russischen Invasion Ende Februar sollte er fliehen. Sein Alter und Gesundheitszustand stellten keinen Nutzen für die ukrainische territoriale Abwehr dar.
Klar ist: Er stand auf sogenannten Entführungslisten der russischen Besatzer. Nun steht Vojtenkos Frau wahrscheinlich auch auf einer. Das haben ihr Bekannte gesagt, die auch ihren Mann warnten. Aus Melitopol – der Stadt, in der selbst der Bürgermeister vor laufender Überwachungskamera entführt wurde – kann sie jetzt nicht mehr fliehen. Ihre Papiere würden sie an russischen Kontrollpunkten verraten.
Es ist nur einer von vielen Entführungsfällen. Die UNO-Menschenrechtsmission in der Ukraine schreibt auf Anfrage von SRF, seit Kriegsbeginn bis zum 11. April seien 125 Fälle gezählt worden, darunter 102 Männer und 23 Frauen. Von diesen Entführten seien 34 Opfer unterdessen freigelassen und drei tot aufgefunden worden. Die UNO-Mission befürchtet, dass die tatsächliche Zahl der Entführungsopfer höher ist als diese Gesamtzahl.
Betroffen sind insbesondere Regionen wie Kiew und Cherson. Das Ziel der Entführungen ist offenbar strategisch: Den Widerstand in der Bevölkerung zu brechen, aber auch entführte Politiker gegen Kriegsgefangene austauschen zu können.
Was geschieht nach der Verschleppung? Nachkonstruieren lässt sich das für den Fall des ukrainischen Journalisten Oleh Baturin. Er wurde zwischen dem 12. und 20. März für acht Tage festgehalten und nach seinen Angaben misshandelt. Recherchen von SRF Investigativ zufolge wurde er höchstwahrscheinlich in einer neuen, umfunktionierten Untersuchungshaftanstalt in Cherson gefangen gehalten. Diese Einrichtung wurde nur wenige Tage vor Baturins Verschwinden von russischen Polizei- und Militärkräften übernommen. Das berichtete Lyudmila Denisova, Ombudsfrau für Menschenrechte in der Ukraine.
Mattia Nelles, Ukraine-Experte und politischer Analyst, sieht Baturins Entführung als Sinnbild für viele weitere Entführungen, die er mitverfolgt hat. Baturins Fall sei beispielhaft für eine Reihe von Entführungen von politischen Amts- und Funktionsträgern, lokalen Abgeordneten und Journalisten, die allesamt eingeschüchtert und oder gebrochen werden sollten. Dazu gehörten Merkmale wie, dass er auf offener Strasse entführt, gefoltert und wieder freigelassen wurde. «Seine Entführung war ein Teil einer grösseren Einschüchterungswelle», sagt Nelles.
Das Motiv von Baturins Entführer gehe über seine Arbeit als Journalist hinaus, denkt Oleksandra Matviichuk von der ukrainischen Menschenrechtsorganisation CCL. «Der Hauptgrund war eine strategische Säuberungsaktion, um aktive Minderheiten zu liquidieren und so schnell die Kontrolle über die Region zu erlangen.»
Die Methoden von gezielten Entführungen und Folterungen seien schon von der Besetzung des Donbass und der Krim bekannt, erklärt Politanalyst Nelles. «Wir sind am Anfang dieser Repressionen. Die Russen sind dabei, Volksrepubliken zu errichten. Sie sind dabei, die Menschen systematisch zu verfolgen, und sie stehen erst am Anfang.»
Was Russland zum Vorwurf der Entführungen sagt, bleibt oft unklar. In einzelnen Fällen haben russische Vertreter die Verhaftung von Lokalpolitikern bestätigt, im Fall von Melitopol wurde Bürgermeister Fedorov als Terrorist bezeichnet.