So schnell hat der Internationale Strafgerichtshof (ICC) noch nie gehandelt. Normalerweise braucht der ICC eine lange Anlaufzeit sowie die Zustimmung der Richterinnen und Richter, bis das Anklagebüro seine Ermittlerinnen und Ermittler in ein Konfliktgebiet schicken darf.
Nicht so jetzt, im Krieg in der Ukraine. 39 ICC-Mitgliederstaaten – unter ihnen auch die Schweiz – haben Chefankläger Karim Khan angewiesen, per sofort mit Ermittlungen in der Ukraine zu beginnen. Ein entsprechender Passus im Römerstatut, dem ICC-Regelwerk, macht dies möglich. Dank dieser koordinierten Aktion hat der Leiter der ICC-Anklagebehörde die Zustimmung der Richter nicht nötig, sondern kann direkt loslegen. Bereits am Donnerstag schickte der 51-jährige Brite denn auch ein Team mit Spezialistinnen und Spezialisten ins Kriegsgebiet, um Beweise zu sammeln.
Am ICC weht ein neuer Wind
Schon zu Beginn des Konflikts hatte sich Khan zu Wort gemeldet. Er mache sich grosse Sorgen, schrieb er in einem ersten Communiqué. Wenige Tage später warnte er die Konfliktparteien, er beobachte sehr genau, was sie täten. Dieses sehr offensive Verhalten des Chefanklägers ist ein Zeichen dafür, dass nach seiner lethargisch operierenden Vorgängerin Fatou Bensouda ein neuer Wind weht am ICC-Hauptsitz in Den Haag. Khan will offensichtlich die Gunst der Stunde nutzen und aller Welt zeigen, wozu der Internationale Strafgerichtshof im Stande ist.
Der ICC ahndet Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der Aggression. Besonders wegen letzterem liegt es auf der Hand, dass der Name Wladimir Putin wohl zuoberst auf der Liste mit den Verdächtigen steht. Schliesslich hat alle Welt gesehen, dass der russische Präsident der Aggressor ist. Er hat diesen Krieg angezettelt, befohlen – und er orchestriert ihn.
Mit Sicherheit genügend Beweise
Chefankläger Khan wird zweifellos genügend Beweise finden, um Putin anzuklagen. Dass der Russe dereinst aber tatsächlich auf der ICC-Anklagebank sitzen wird, ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Weder ist Russland Mitglied des ICC, noch akzeptiert es das Wirken des Strafgerichtshofs.
Abgesehen davon müsste Putin zuerst davon überzeugt werden, dass seine «militärische Operation» in der Ukraine nichts anderes als ein Krieg ist. Der ICC hat noch einen langen Weg vor sich. Aber mit dem Einsatz der Ermittler ist ein erster Schritt getan.