Die Militärtaktik der Russen in der Ukraine weist Parallelen zu ihrer Taktik in Syrien auf. Das sagt die Politologin und Sicherheitsexpertin Hanna Notte vom Wiener Zentrum für Abrüstung und Non-Proliferation. Sie hat die russische Kriegsführung untersucht.
SRF News: Inwiefern erinnern die jüngsten Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur an die russische Kriegsführung in Syrien?
Hanna Notte: Vor allem von 2016 bis 2018 gab es russische Angriffe auf syrische Infrastruktur – etwa in Aleppo, Ost-Ghouta bei Damaskus oder Idlib. Die Angriffe galten Spitälern, Märkten und Schulen. Ziel der Russen war es, der syrischen Zivilgesellschaft die Lebensgrundlagen zu entziehen und sie zum Fliehen zu bewegen.
Die gesamte ukrainische Gesellschaft soll zermürbt werden.
Es gibt aber auch einige wichtige Unterschiede zur Ukraine: In Syrien ging es um die Zermürbung und Vertreibung der Bevölkerung, mit dem Ziel, dass Assad die Gebiete zurückerobern konnte. In der Ukraine geht es zwar auch um Zermürbung, aber nicht um die Vertreibung der Bevölkerung. Die gesamte ukrainische Gesellschaft soll zermürbt werden. Zudem spielte in Syrien die russische Luftwaffe mit Bombenangriffen eine Hauptrolle. In der Ukraine sind es vor allem Angriffe mit Raketen, Marschflugkörpern und Kampfdrohnen. Grund: Die Russen haben keine Lufthoheit über der Ukraine.
Welche Parallelen der russischen Kriegsführung in Syrien sehen Sie noch?
Wichtiger als weitere Parallelen sind die Unterschiede: In Syrien führte Russland nicht Krieg gegen eine reguläre Armee, sondern gegen Rebellen, die keine Luftabwehr haben. Ausserdem wurden die Bodentruppen vom syrischen Regime gestellt. Für Russland war das also primär ein Luftkrieg mit viel geringeren Kosten als der Krieg in der Ukraine.
Das Risiko einer Eskalation – auch einer nuklearen Eskalation – ist ein ganz anderes als in Syrien.
Dort führt Russland als nukleare Grossmacht und Akteur selber einen Krieg gegen einen anderen Staat. Die Rolle des Westens als Unterstützer der Ukraine ist eine ganz andere als in Syrien, auch kann sich die Ukraine viel besser verteidigen. Das Risiko einer Eskalation – auch einer nuklearen Eskalation – ist ein ganz anderes als in Syrien. Der Einsatz für Russland ist dabei sehr viel höher als in Syrien.
Gibt es sonst noch Unterschiede?
In der Ukraine fokussieren die Russen sehr stark auf die Energieversorgung, wohl, weil jetzt der Winter vor der Türe steht.
An der Front verhält sich Russland derzeit eher defensiv. Ein Zeichen der Schwäche oder bewusste Strategie?
Es ist wohl beides. Russland sieht sich aufgrund der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensiven dazu genötigt. Es versucht, die derzeitigen Gefechtslinien einzufrieren, um über die Wintermonate Nachschub an Waffen und Munition zu produzieren. Ausserdem sollen die mobilisierten Soldaten an die Front gebracht werden.
Moskau hofft, im Frühjahr einer zermürbten ukrainischen Seite Konzessionen abzugewinnen.
Gleichzeitig versucht Russland durch die Raketen- und Drohnenangriffe, die Überlebensfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft zu gefährden. So, hofft man wohl in Moskau, könnte man einer zermürbten ukrainischen Seite im Frühjahr Gebietsabtretungen abgewinnen oder sie zu Konzessionen drängen. Im schlimmsten Fall hofft Russland gar, im Frühjahr wieder zu Offensiven fähig zu sein.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.