Plötzlich steht die Nato wieder im Blickpunkt der Weltpolitik. Noch vor kurzem als «obsolet» und «hirntot» verspottet, ruhen auf dem Verteidigungsbündnis jetzt die Hoffnungen vieler osteuropäischer Staaten, die sich von Russland bedroht fühlen.
Auf dem heutigen Nato-Sondergipfel ist dem Rechnung getragen worden: In Brüssel haben die 30 Mitgliedstaaten beschlossen, die Zahl der Nato-Kampfgruppen von vier auf acht zu verdoppeln. Damit wird die Nato künftig an ihrer Ostflanke in allen Mitgliedsstaaten präsent sein, von Estland im Norden bis Bulgarien im Süden. Die Nato-Kampfgruppen sind Verbände mit ungefähr 1000 bis 2000 Soldatinnen und Soldaten. Sie sollen Ländern wie Estland oder Bulgarien das Gefühl vermitteln, nicht im Stich gelassen zu werden – käme es zu einem Angriff aus Russland, wären Nato-Truppen bereits vor Ort.
Nato wäre Russland in einem Krieg überlegen
Militärisch bedeutsamer sind die Pläne vieler Nato-Staaten, ihre eigenen Streitkräfte in den kommenden Jahren massiv auszubauen. Allein der deutschen Bundeswehr sollen zusätzlich 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Und die US-Streitkräfte haben in Europa bereits heute 100’000 Männer und Frauen stationiert. Die Botschaft: In einem konventionellen Krieg wäre die Nato Russland haushoch überlegen.
Der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine hat die Nato-Staaten zusammengeschweisst – sorgt aber auch für neues Spannungspotenzial innerhalb der Allianz. Vor allem der Mitgliedstaat Polen fordert mehr militärische Unterstützung zugunsten der Ukraine, etwa die Lieferung von Kampfjets oder die Entsendung einer «Nato-Friedenstruppe». Doch beim amerikanischen Präsidenten Joe Biden stösst er damit auf wenig Begeisterung. Es sollen zwar zum Beispiel noch mehr tragbare Waffensysteme für Panzer- und Luftabwehrraketen geliefert werden, aber die Forderungen Polens gehen auch den meisten anderen Nato-Staaten zu weit.
Nato will Dritten Weltkrieg vermeiden
Zu gross ist die Furcht, dass die Nato immer mehr in den Ukraine-Krieg hineingezogen werden könnte, dass am Ende ein Dritter Weltkrieg ausbrechen könnte. Zumal Putin demjenigen mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gedroht hat, der sich in seinen Krieg gegen die Ukraine einmischt.
Als das «erfolgreichste Verteidigungsbündnis der Geschichte» bezeichnet Generalsekretär Jens Stoltenberg die Nato gerne. Schliesslich ist seit ihrer Gründung vor 74 Jahren noch nie ein Mitgliedsstaat auf seinem Territorium militärisch angegriffen worden. Just auf diesem Bild einer unverwundbaren Nato ruhen heute nicht nur viele Hoffnungen – es ist auch grösseren Risiken ausgesetzt als jemals zuvor.