Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat das Leben im Baltikum über Nacht verändert. In einer ersten Reaktion auf die Invasion hat der litauische Staatspräsident den Ausnahmezustand in der südlichsten baltischen Republik ausgerufen: «Wir müssen nun alles tun, um unsere Grenzen zu Russland und Belarus zu schützen.»
Gitanas Nauseda erklärte vor dem nationalen Parlament in Vilnius, dass sich die 2.8 Millionen Litauerinnen und Litauer als Mitglieder der Nato sicher fühlen können und an der Seite der Ukraine stehen. Er, der noch am Mittwoch Kiew besucht hatte, machte deutlich, dass das auch für die anderen baltischen Staaten, Lettland und Estland, gelte.
Befreiung von sowjetischer Besatzung
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine geht diesen Völkern an der Ostsee sehr nahe, und das aus politischen, historischen, geografischen und demografischen Gründen. So bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede kürzlich im Kreml die Unabhängigkeit der baltischen Staaten als Fehler.
Litauen, Lettland und Estland sind seit gut drei Jahrzehnten wieder unabhängig, nachdem sie zuvor während fast einem halben Jahrhundert unter sowjetischer Besatzung standen.
Der nun ausgerufene Ausnahmezustand in Litauen erklärt sich auch damit, dass das Land im Westen an die hoch militarisierte russische Exklave Kaliningrad grenzt, und im Osten an Belarus, wo gegenwärtig mehr als 30'000 russische Truppen stationiert sind.
Für Lettland und Estland, die im Osten an Russland grenzen, kommt hinzu, dass es in beiden Staaten grosse russischsprachige Minderheiten gibt. Die meisten russischsprachigen Baltinnen und Balten verfügen zwar heute ebenfalls über einen EU-Pass.
Keine russischen Staatssender im Land
Eine Minderheit hat jedoch die russische Staatsbürgerschaft übernommen. Um diese Menschen von der einseitigen Kriegspropaganda aus Moskau abzuschneiden, haben die Regierungen in Riga und Tallinn den russischen Staatskanälen im Land die Sendeerlaubnis entzogen. Wichtiger aber noch ist das klare Bekenntnis der Nato-Partner in Europa und Amerika zum Baltikum, das seit 2004 Teil der Verteidigungsallianz ist.
In den letzten Tagen sind zahlreiche Nato-Kampfjets, -Helikopter, aber auch -Bodentruppen an die Ostsee verlegt worden. Für eine Abwehr eines allfälligen russischen Angriffs wäre dies aber zu wenig. Ganz sicher fühlen, einer Tragödie, wie sie in der Ukraine stattfindet, zu entrinnen, können sich die Baltinnen und Balten also noch nicht.
Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen gehören sie jetzt zu den stärksten Ukraine-Fürsprechern. Im ganzen Baltikum finden Solidaritätskundgebungen statt. Am Gipfeltreffen der EU und der Nato fordern die baltischen Vertreter Waffenlieferungen an die Ukraine und striktere Sanktionen als bislang beschlossen. Die Menschen im Baltikum wissen und spüren es noch allzu gut, was es konkret heisst, Unabhängigkeit und Freiheit zu verlieren.