Sirenen ertönen: So klingt Sicherheit – nach Polizeisirenen und Vorwärtskommen. «Wissen Sie, wie lange man an der Grenze warten muss?», fragt ein Mann.
Es ist die Grenze zwischen Shehyni und Medyka, zwischen der Ukraine und Polen, zwischen Krieg und Frieden.
Oksana weiss, wie lange man hier warten muss: «Wir standen 14 Stunden lang in der Schlange.» 20 Kilometer vor der Grenze beginne das Anstehen, sagt die Frau. Seit einer Woche denkt sie in Entfernungen und Wartezeiten. Vor sieben Tagen – oder waren es sieben Jahre? – ist sie mit ihrer Tochter aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew geflohen. Hat gewartet – auf Busse, bis sie drankommt. «Wir haben während der Warterei an der Grenze nichts zu trinken bekommen», sagt sie. Hochgeschlagene Kapuze, Rucksack – und Ratlosigkeit. «Wohin jetzt? Das weiss ich nicht.»
Auch Nadia weiss nicht, wohin – ihre Söhne klammern sich an ihren dicken Mantel. Gerade noch hatte sie ihr eigenes Geschäft im Westen der Ukraine, dann brachte ihr Mann sie an die polnische Grenze: «Wir sind aufgewacht unter Bomben, mussten die beiden Kleinen retten, die grosse Tochter möchte in der Ukraine bleiben und kämpfen.» Und der Mann muss bleiben – wehrpflichtige Männer dürfen nicht ausreisen.
Es erschallt ein Klingelton: Das Partisanenlied «Bella Ciao»: So klingt Sorge – nach gezückten Telefonen, nach Klingeltönen wie «Bella Ciao», dem Lied der italienischen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg.
Anna steht neben ihrem Auto, entschuldigt sich, sie muss telefonieren. Anna ist Ukrainerin, lebt aber in Polen. Sie wartet auf ihren dreizehnjährigen Bruder, ihren Onkel. Ihre Verwandten, sagt Anna, hätten ihr erzählt, es sei furchtbar teuer gewesen, mit dem Bus nur schon in die Nähe der Grenze zu fahren. «Meine Eltern und meine Grossmutter sitzen noch in Kiew im Luftschutzkeller», erzählt sie besorgt.
«Tee», ruft Wladyslaw auf Polnisch und auf Ukrainisch. So klingt Hilfe. Auf dem Tisch stehen auch Wasserflaschen, liegen Sandwiches. Wladyslaw ist Ukrainer, studiert aber im polnischen Krakau. «Ich habe Geld gesammelt mit ein paar Freunden. Wir haben eingekauft und sind an die Grenze gefahren.» Dann verstummt Wladyslaw – sein Vater kämpft gerade in der Ostukraine. «Das ist schwierig für mich...»
Für eine andere Anna hingegen war alles einfach und klar. Sie ist Polin, Psychotherapeutin. Und sie ist an die Grenze gefahren, um Fremden zu helfen. «Das versteht sich ja von selbst.» Anna wird Oksana und ihre Mutter zu sich nach Hause nehmen.
«Ich komme aus Kiew», sagt Oksana, «und meine Mutter kommt aus dem Westen der Ukraine.» Die beiden können kein Polnisch, Psychotherapeutin Anna kann kein Ukrainisch. «Das macht nichts, wir werden uns schon verstehen.»
Gleich daneben beraten sich Polizei und Feuerwehr. Einer schwangeren Frau geht es schlecht, man wird eine Ambulanz rufen. Ein Feuerwehrmann lässt Menschen aus der Ukraine in einen grossen roten Bus steigen. «Wir bringen die Leute ins Warme, in die Städte und Dörfer der Gegend.» Die polnischen Behörden helfen – Unterkunft, Essen, Medizin.
Und so klingt vielleicht Mut – eine Frau hat ihre Tochter über die Grenze gebracht und geht jetzt zurück. Warum? «Was für eine Frage, bei uns ist doch Krieg, wir müssen das Land verteidigen.»