Nach zwei Wochen Ukraine-Krieg mussten beide Seiten einstecken. Es ist ein blutiger Krieg. Wie steht es um den Zustand der beiden Armeen? Der Überblick – mit Militärhistoriker Michael M. Olsansky.
Welche Armee hat seit Kriegsbeginn mehr Soldaten verloren? «Man geht bei der russischen Armee von einer mittleren bis hohen vierstelligen Zahl an Gefallenen aus», sagt Olsansky. Dafür habe man aber kaum verlässliche, unabhängige Bestätigungen, betont er. Die Ukraine selbst spricht von 10'000-11'000 gefallenen russischen Soldaten. Diese Zahl sei wohl übertrieben: «In allen Konflikten der Kriegsgeschichte waren die Angaben über die gegnerischen Verluste in der Regel zu hochgeschätzt.» Um die Verlustzahlen tobt auch eine Propaganda-Schlacht. Die Verluste der ukrainischen Armee dürften kaum tiefer sein, aber auch hier sind keine verifizierten Zahlen bekannt.
Generell könne man festhalten: «Sehr hohe Verlustzahlen in nur zwei Wochen Krieg. Jeder derzeitigen westeuropäischen Armee würde das politisch, organisatorisch und strukturell das Genick brechen. Keine Armee wäre in der Lage, die Kampfhandlungen noch substanziell weiterzuführen.» Die russische Armee habe da grundsätzlich andere Personalressourcen.
Welche Streitkräfte konnten bisher mehr Erfolge verbuchen? «Bei der materiellen Ausrüstung hat die russische Armee offensichtlich sehr viel Grossgerät verloren, wie zum Beispiel Panzerfahrzeuge», sagt Olsansky. In gut informierten Kreisen gehe man davon aus, dass Russland 100-200 schwere Kampfpanzer und 20 bis 30 Kampfflugzeuge, und etliche Kampfhelikopter verloren haben könnte. Das seien aber ungesicherte Zahlen.
Nicht vergessen dürfe man aber, dass auch die ukrainische Armee einen Grossteil ihrer Kampfflugzeuge verloren habe. «Bisher hat die ukrainische Seite rein zahlenmässig wohl weniger Kriegsmaterial verloren als die russische Seite, am Boden wie in der Luft». Aber: Die Verluste im Bereich der Kampfflugzeuge schmerzen die Ukraine mehr. «Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Luftwaffe schätze ich die Verluste eher höher ein als die der Russen. Die Luftwaffe der Ukrainer ist stark angeschlagen.»
Sind Waffen-Zulieferungen vom Westen entscheidend? «Die Ukraine wird je länger je mehr darauf angewiesen sein. Denn ein wesentlicher Teil der ukrainischen Rüstungsindustrie liegt in der aktuell sehr umkämpften Ostukraine. Falls sie auf diese nicht mehr zugreifen könnten, bräuchte man eine konstante Versorgung an Waffen aus dem Westen.»
Welche Stärken zeichnet die russischen Truppen aus? «Die russische Armee zeigt sich momentan in kaum einem Bereich in wirklich überzeugender Verfassung», sagt Olsansky mit Nachdruck. Der grosse Vorteil der Russen sei jedoch die Feuerkraft ihrer Bodentruppen. «Allein durch ihre Artillerie können sie eine immense Feuerkraft aufbauen und gegnerische Stellungen tagelang unter Feuer nehmen.»
Welche Stärken zeichnet die ukrainischen Truppen aus? «Ihre grösste Stärke liegt im Infanteriekampf. 200'000 eingesetzten russische Soldaten stehen zum einen 200'000 ukrainischen Soldaten der Präsenzarmee von Anfang Jahr gegenüber.» Dazu kämen etwa 900'000 Reservisten, die aufgeboten werden können – und weitere freiwillige Ukrainer mit unterschiedlicher oder ganz ohne militärische Ausbildung.
«Die Ukrainer zeigen sich sehr wehrhaft und kampfbereit, während man auf russischer Seite Berichte von tiefer Kampfmoral hört», sagt Olsansky.
Ist das Kräfteverhältnis für den Krieg entscheidend? «Man darf nicht vergessen: Die beiden Armeen bewegen sich zahlenmässig auf einem ganz anderen Level. Russland ist an sich eine militärische Grossmacht, die ukrainische Armee bewegt sich im Mittelfeld. Aber: Die einen greifen an, die anderen verteidigen.» Diese moralischen Faktoren wirken sich laut Olsansky auch auf die Kampfkraft aus. «Da geht es um die Existenz.» Russland hingegen müsse ein militärisches Minimalresultat erringen – alles andere könne sich weder Putin noch sein Sicherheitsapparat leisten.
Die Prognose des Militärhistorikers: «Aktuell halte ich eine russische Staatspleite aufgrund der Wirtschaftssanktionen für viel wahrscheinlicher als eine Aufgabe des Kampfs um die Ukraine beziehungsweise einen russischen Rückzug.»