Die verstörenden Bilder aus Butscha gingen um die Welt: Nach dem Abzug russischer Truppen wurden auf den Strassen des Kiewer Vorortes zahlreiche Leichen von Bewohnern gefunden, manche mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Die Ukraine macht für das Massaker russische Truppen verantwortlich und spricht von Kriegsverbrechen.
Dabei war Butscha möglicherweise nur der Anfang. Die Verlagerung der russischen Armee in den Osten der Ukraine fördert weitere Schreckensbilder zutage, etwa aus dem Kiewer Vorort Borodjanka.
SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky war am Freitagmorgen unterwegs von Kiew in die rund 35 Kilometer entfernte Kleinstadt. Dort soll die Lage noch «viel schrecklicher» sein als in Butscha, hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in seiner Videobotschaft vom Donnerstagabend auf Telegram erklärt. Und am Mittwoch hatte der ukrainische Zivilschutz auf Facebook geschrieben: «Angesichts des Ausmasses der Zerstörung können wir nur erahnen, wie viele schreckliche Funde uns erwarten.»
«Wenn Selenski sagt, die Lage in Borodjanka sei noch schlimmer als in Butscha, dann meint er damit wohl, dass dort mutmasslich noch mehr zivile Opfer gefunden werden», sagt Luzia Tschirky. «Viele Menschen sind wahrscheinlich noch verschüttet.» Aus den Trümmern von zwei ausgebombten Wohnhäusern sind ukrainischen Behördenvertretern zufolge bis am Donnerstagabend 26 Leichen geborgen worden. Seit Mittwoch sucht der ukrainische Zivilschutz dort nach Überlebenden und Opfern.
Borodjanka war länger unter Kontrolle der russischen Armee und es haben dort heftige Kämpfe stattgefunden.
Als sie unsere Fragen per Voice-Message beantwortet, passiert Luzia Tschirky gerade einen ukrainischen Check-Point, rechts steht ein ausgebranntes Fahrzeug. Die Überbleibsel der Kampfhandlungen seien allgegenwärtig. Auch Luzia Tschirky geht davon aus, in Borodjanka eine noch verheerendere Situation anzutreffen als in den Städten Irpin und Butscha, die näher bei Kiew liegen. «Borodjanka war länger unter Kontrolle der russischen Armee und es haben dort heftige Kämpfe stattgefunden», sagt Tschirky. «Es wurde entsprechend noch mehr zivile Infrastruktur zerstört und noch mehr Zivilisten hatten unter dem Krieg zu leiden.»
Der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj bezeichnete Borodjanka als eine der am stärksten zerstörten Städte in der Region Kiew. Es werde wohl noch Monate dauern, die Opfer zu bergen und die Verstorbenen zu identifizieren, sagt Luzia Tschirky.
Selenski indes stellte in seiner Videobotschaft die Frage, was passieren werde, wenn die Welt erfahre, was russische Einheiten in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol angerichtet hätten. Dort sei auf «fast jeder Strasse» das, was die Welt nach dem Abzug der russischen Truppen in Butscha und anderen Orten um Kiew gesehen habe.
Was die Realität des Krieges für die Menschen vor Ort bedeutet? «Das kann man sich nicht wirklich vorstellen und es ist ein Privileg, es nicht genau zu wissen», sagt die Korrespondentin, die die Nacht in einem Kiewer Hotel verbracht hat. Die Menschen hätten vielleicht ihr Zuhause, ihr Erspartes, ihr Hab und Gut verloren. Sie hätten vielleicht ihre Nächsten verloren oder wüssten nicht, wo ihre Angehörigen sind. Viele der Toten seien nicht identifiziert, die Behörden überfordert. «Ich habe mit einer Frau gesprochen, die ihren Schwiegersohn sucht, von dem angenommen wird, dass er tot ist», sagt Luzia Tschirky. «Sie sucht jetzt nach seinem Leichnam.»