Während sich die G7-Regierungschefs in Bayern trafen, hat die russische Armee am Sonntag die ukrainische Hauptstadt Kiew mit Raketen beschossen. Offenbar gab es mehrere Explosionen, auch ein neunstöckiges Wohnhaus und ein Kindergarten wurden getroffen. Bettina Müller von RSI, dem Radio der italienischsprachigen Schweiz, war vor Ort.
SRF: Wie zeigt sich die aktuelle Situation in Kiew?
Bettina Müller: Eine von 14 Raketen, die heute von Belarus aus auf Kiew geschossen wurden, hat einen Wohnblock im Zentrum der Stadt getroffen und die Rakete hat das Dach und die drei oberen Etagen des Wohnblocks völlig zerstört. Überall auf der Strasse lagen Scherben und Trümmer. Dieser Angriff hat eine Familie besonders hart getroffen. Der Vater ist tot, die siebenjährige Tochter ist schwer verletzt und sofort ins Spital gebracht worden. Die Mutter ist unter eine Betonplatte geraten und sie wurde mit viel Mühe nach mehreren Stunden herausgezogen und mit der Ambulanz ins Spital gebracht. Vor Ort waren die Feuerwehr, viele Soldaten und Rettungskräfte sowie der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko.
Russland behauptet in einem Communiqué vom Verteidigungsministerium, es sei eine Falschmeldung, dass sie einen Wohnblock beschossen hätten.
Nur ein paar Hundert Meter entfernt traf eine weitere Rakete einen Spielplatz vor einem Kindergarten und die Autos in der Nähe hatten alle kaputte Scheiben. Zum Glück gab es dort aber keine Opfer. Es ist das dritte Mal seit Anfang des Krieges, dass dieses Viertel von russischen Raketen beschossen wird. Russland behauptet in einem Communiqué vom Verteidigungsministerium, es sei eine Falschmeldung, dass sie einen Wohnblock beschossen hätten. Sie hätten die Raketen auf eine Raketenfabrik gezielt. Tatsächlich gibt es hier eine militärische Anlage – die Ukrainer aber sagen, das sei eine alte Anlage, die nicht mehr gebraucht wird.
Die letzten Angriffe auf Kiew waren Anfang Juni. Seither war es ruhig. Wie ist die Stimmung in der Stadt nach dem Beschuss?
Die Stimmung ist sehr bedrückt. In den vorherigen Tagen konnte man eine gewisse sommerliche Atmosphäre spüren. Nach den Raketenangriffen aus Belarus ist die Stimmung sehr bedrückt, weil sie den ganzen Morgen gedauert und nicht aufgehört haben. Zum Glück wurden viele vom Anti-Raketensystem abgefangen, aber die Spannung war gross.
Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums vermutet, dass die Russen mit diesen Angriffen ausserhalb des Donbasses ein Ablenkungsmanöver betreiben.
Die russische Armee hat sich in den letzten Wochen vor allem auf die Ostukraine konzentriert, auf den Donbass. Nun diese neuen Angriffe auf Kiew und andere Städte im Westen des Landes. Wie erklären sich das die Verantwortlichen vor Ort?
Wir haben am Freitag mit dem Gouverneur der Region Kiew gesprochen. Er hat gesagt, er halte einen Angriff auf Kiew aus Belarus jederzeit für möglich. Man hat mir gesagt, von so einem Nachbarland könne man alles erwarten. Dasselbe hat auch der Pressesprecher des Verteidigungsministeriums behauptet. Er vermutet, dass die Russen mit diesen Angriffen ausserhalb des Donbasses ein Ablenkungsmanöver betreiben.
Die grosse Frage ist eben, ob sich jetzt wieder eine Front im Norden öffnet und ob Belarussen in den Krieg ziehen werden. Man weiss, dass es bereits jetzt schon 4000 belarussische Soldaten an der Grenze gibt. Präsident Wolodimir Selenski hat angeordnet, man solle überprüfen, ob es nötig ist, auch dort ukrainische Soldaten zu mobilisieren. Das wäre vielleicht auch ein Ablenkungsmanöver, um die ukrainischen Kräfte aufzuteilen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.