Nirgendwo ist die Krim Russland so nahe wie an der Strasse von Kertsch. Vom Ufer der Meerenge sieht man rüber aufs Festland.
Und man sieht auf die Krimbrücke: 17 Kilometer lang zieht sie sich übers Wasser nach Russland. Nach der Annexion der Krim 2014 war die Brücke für den Kreml ein Prestigeobjekt. Ein Symbol aus Stahl und Beton für den russischen Anspruch auf die ukrainische Halbinsel.
Für das Städtchen Kertsch ist die Krim-Brücke ein Segen. Das sagt Bürgermeister Sergej Borosdin. Der ehemalige Hafen-Manager ist heute Politiker der Kreml-Partei «Einiges Russland». «Dank der Brücke konnten wir die Zahl der Touristen stark erhöhen – von 400'000 auf gegen eine Million pro Jahr.»
Noch gebe es viel zu tun, gesteht Bürgermeister Borosdin beim Gespräch in seinem Büro. «In den 23 Jahren unter ukrainischer Kontrolle ist hier wirtschaftlich wenig passiert», sagt er. Die Ukraine habe kaum etwas in die Infrastruktur der Stadt investiert. Russland dagegen stelle riesige Summen zur Verfügung. «Es werden Strassen und Trottoirs repariert, neue Spielplätze und Sportanlagen gebaut, auch Häuser werden saniert.»
Es werden Strassen und Trottoirs repariert, neue Spielplätze und Sportanlagen gebaut, auch Häuser werden saniert.
Der Bürgermeister mag die Lage etwas schönreden. Immerhin ist er ein Vertreter der neuen, der russischen Staatsmacht. Ein Porträt an der Wand erinnert ständig an Wladimir Putin, den gestrengen Herrn im Kreml.
Aber was die Bautätigkeit auf der Halbinsel angeht, hat der Bürgermeister Recht – Baustellen begegnet man nicht nur in Kertsch. Der Kreml investiert sichtbar Milliarden in die Infrastruktur der Krim.
«Wir kommen gerade so über die Runden»
Bei den einfachen Menschen allerdings, kommt das viele Geld nicht recht an. Auf einem Markt auf der Krim: Wer mit den Leuten redet, hört immer wieder dieselbe Geschichte. «Ja, die Löhne sind gestiegen, als die Russen kamen», sagt eine Verkäuferin. «Aber auch die Preise sind sehr schnell gestiegen.» Milch zum Beispiel, rechnet sie vor, koste heute 80 Rubel pro Liter, umgerechnet 1 Franken 20. Das ist so viel wie in Moskau – allerdings sind die Gehälter auf der Krim viel tiefer.
Die Löhne sind gestiegen, als die Russen kamen. Aber auch die Preise sind sehr schnell gestiegen.
Für einfache Jobs gibt es bloss 200 Franken pro Monat. «Wir kommen gerade so über die Runden», sagt ein Mann. Und jemand zeigt auf verfaulte, verschimmelte Pfirsiche. Die werden vergünstigt verkauft – für Leute, die sich keine anderen Früchte leisten können.
Riesige staatliche Investitionen in die Infrastruktur – aber die Menschen müssen den Gürtel enger schnallen. So präsentiert sich die wirtschaftliche Lage seit Jahren in ganz Russland. Und seit der Annexion eben auch auf der Krim.
Viele fürchten Probleme mit der Staatsmacht
Überhaupt ist Russland mit allem, was es hat, auf der Krim eingefahren: mit seinem Wirtschaftsmodell – und auch mit seinem repressiven politischen System. Denn nicht nur die Enttäuschung über den ausbleibenden Wohlstandsschub ist charakteristisch für die Stimmung auf der Krim. Sondern auch die Angst, offen zu reden. Viele fürchten Probleme mit der Staatsmacht, wenn sie sich kritisch äussern.
Ein Ort, an dem die Angst keinen Platz hat, ist die ukrainisch-orthodoxe Kirche im Zentrum von Simferopol, der Hauptstadt der Krim.
Hinter der schweren Eingangstür ist es still. Kerzen brennen und werfen ein warmes Licht auf goldene Ikonen. Die Kirche ist einer der letzten Orte auf der Krim, wo in ukrainischer Sprache gebetet werden kann. Nun soll das Gotteshaus aufgelöst werden. Der russische Staat beansprucht das Gebäude für sich.
Vertreibung der ukrainischen Kirche
«Vordergründig geht es um einen Immobilien-Streit. Die Regierung möchte dieses Gebäude zurückhaben. Allerdings sind die wahren Hintergründe des Konflikts politischer Natur», sagt Wladika Kliment, der Erzbischof der ukrainischen Kirche auf der Krim.
Die Behörden gehen mit fragwürdigen juristischen Argumenten gegen den bärtigen Geistlichen vor. «Wir hatten einen Vertrag aus ukrainischer Zeit, dass wir die Liegenschaft 50 Jahre lang mieten und dafür eine ukrainische Hrywna pro Jahr zu bezahlen haben.» Eine Hrywna – das sind vier Rappen. Ein symbolischer Preis. «Wir wurden verklagt, weil wir die Miete nicht bezahlt hätten. Dabei hatte ich die Summe für die ganzen 50 Jahre schon vor langem überwiesen.»
Ein paar Rappen also, angeblich nicht bezahlt, sollen als Vorwand dienen, die ukrainische Kirche von der Krim zu vertreiben. Wladika Kliment wehrt sich vor Gericht dagegen – und hat vor kurzem einen vorläufigen Erfolg verbucht. Vorerst dürfen er und seine Gemeinde in der Kirche bleiben.
«Wir haben uns immer als Russen gefühlt»
Das ändert nichts daran, dass auf der Krim unter Druck kommt, wer die neuen russischen Machthaber nicht anerkennt. Seit 2014 sind mehrere zehntausend Ukrainer von der Krim in die Ukraine gezogen. Manche mussten regelrecht fliehen.
Was aber auch stimmt: Viele Menschen auf der Krim haben durchaus enge Bindungen zu Russland. «Wir Einwohner der Krim haben uns immer als Russen gefühlt», sagt etwa die 44-jährige Olga Dronowa, eine prorussische Aktivistin aus der Hafenstadt Sevastopol. «Ich bin auch mit diesem Gefühl aufgewachsen. Hier auf der Krim war stets die russische Flotte stationiert, wir haben russische Lieder gesungen, wir waren stolz auf die russische Geschichte.»
Hier auf der Krim war stets die russische Flotte stationiert, wir haben russische Lieder gesungen, wir waren stolz auf die russische Geschichte.
Dronowas Begeisterung für die «russische Krim» wirkt authentisch. Das ist das Problem: Russland hat mit der Annexion der Halbinsel zwar Völkerrecht gebrochen, für Olga Dronowa und viele andere fühlt es sich dennoch «richtig» an, dass nun Moskau wieder die Krim regiert – und nicht mehr Kiew.
«Dieses kleine Café ist alles, was übrig blieb»
Ein differenzierteres Bild hat der Gastronom Oleg Nikolaew. Der 53-Jährige sitzt im «Coffee Studio», einem hippen Café, das ihm gehört. Er stammt aus Moskau, kam aber noch zu ukrainischen Zeiten nach Sewastopol und hat ein kleines Gastro-Imperium aufgebaut.
«Ich besass zwei Restaurants und hatte mobile Wagen, die Fastfood verkauften. Das ist vorbei. Dieses kleine Café ist alles, was übrig blieb. Der Grund dafür? Ich habe mich in die Politik eingemischt.»
Dabei ist Nikolaew nicht pro-ukrainisch: der Moskauer war ein feuriger Anhänger des so genannten «russischen Frühlings» gewesen, der Ereignisse von 2014. «Ich muss sagen: Ich hatte sehr romantische Vorstellungen», sagt er rückblickend. Nikolaew begann sich in jener Zeit politisch zu engagieren. «Wir haben geglaubt, dass wir hier in Sewastopol ein anderes, ein besseres Russland aufbauen können. Ein Land ohne die negativen Dinge, die wir vom Festland kennen.»
Was Nikolaew meint: ein demokratischeres Russland, ein Land ohne Korruption und Machtmissbrauch. Doch er und seine Mitstreiter gerieten bald in den Konflikt mit der lokalen Regierung. «Der Gouverneur, die Exekutive, war stärker. Es gelang uns eben doch nicht, ein anderes Russland aufzubauen.»
Es gelang uns eben doch nicht, ein anderes Russland aufzubauen.
Und Nikolaew hat seine Restaurants verloren – auf Betreiben der Behörden. Beim einen Lokal sei der Vermieter unter Druck gesetzt worden, den Vertrag zu kündigen, was dieser getan habe. Bei den Fastfood-Wagen habe die Staatsmacht eine Überprüfung nach der anderen angeordnet: nach dem fünfzigsten Besuch einer behördlichen Kommission schmiss Nikolaew hin.
Ist er enttäuscht? «Richtig enttäuscht bin ich nicht. Ich wusste ja, wie Russland tickt. Ich habe selber dort gelebt. Wir hier auf der Krim sind nun einfach Teil dieses Russland geworden.»