Ein Naturschutzgebiet rund 270 Kilometer südlich von Chicago: Gene Kritsky und seine Frau Jessee fotografieren Zikaden in einem Laubwald. Die Insekten sitzen auf Blättern und an Baumstämmen. Es sind Zikaden der Brut XIX, die vor kurzem aus dem Boden kamen.
«Wenn die Bodentemperatur 18 Grad Celsius erreicht, kommen sie aus dem Boden», erklärt Zikadenforscher Kritsky. «Wenn die Blumen und Blätter im Frühling wachsen, ziehen die Wurzeln mehr Flüssigkeit aus dem Boden. Die Zikaden merken, dass ein Jahr vergangen ist.» Wie auf Kommando graben sich die Insekten, nach 13 Jahren im Boden, an die Oberfläche. Wie die Zikaden die Jahre zählen, sei noch immer ein Mysterium, sagt Kritsky.
Schwerfällig – aber zahlreich
Die einige Zentimeter langen Zikaden klettern auf Bäume und häuten sich. Sie haben dunkle Körper, rote Augen und grosse Flügel. Die schwerfälligen Insekten sind eine leichte Beute. Es ergebe Sinn, dass sie massenhaft und gleichzeitig aus dem Boden kämen: So seien die Fressfeinde schlicht überfordert.
Kritsky ist ein renommierter Kenner der periodischen Zikaden, die es nur im östlichen Teil Nordamerikas gibt. Der emeritierte Professor der Mount St. Joseph University in Cincinnati erforscht die Tiere seit fünfzig Jahren. Aber dass nun die Zikadenbrut XIX mit einem 13-jährigen Zyklus und die Brut XII mit einem 17-jährigen Zyklus gleichzeitig ans Tageslicht kommen, hat auch er noch nie erlebt. Das gab es das letzte Mal 1803. Damals herrschte in Europa noch Napoleon.
Zikadenkarten dank Crowdsourcing
Hier, in der Mitte des Bundesstaates Illinois, berühren sich die beiden Verbreitungsgebiete. Die Frage ist: wo genau? «Die Zikaden der beiden Bruten sind genetisch identisch. Ihre Gesänge sind gleich», erklärt Kritsky. Es gelte nun, die Verbreitungsgebiete exakt zu kartieren. «In 13 Jahren müssen wir die eine Brut wieder genau kartieren, in 17 Jahren die andere. Erst dann wissen wir, ob sie sich geografisch überlappen.»
Seit Jahrzehnten bittet Gene Kritsky die Öffentlichkeit um Hilfe bei der Kartierung von Zikaden. Kritsky und seine Universität haben hierzu eine Smartphone-App («Cicada Safari») entwickelt, die mittlerweile 225'000 Userinnen und User habe. Wer Zikaden beobachtet, kann dort ein Foto hochladen. «Wir kriegen von jeder Sichtung einen Fotobeweis und können sagen: Ja, das ist eine periodische Zikade. Und wir kriegen die exakte geografische Position, das Datum und die Uhrzeit.»
Es wird laut – sehr laut
Mit geübtem Griff pflückt Kritsky eine Zikade von einem Blatt. Er deutet auf etwas Weisses am Körper: «Das ist das Trommelorgan des Männchens.» Damit mache es sein Geräusch. Der mehrheitlich hohle Hinterleib diene als Resonanzkörper.
Noch ist das Geräusch kaum zu hören, dieser graue Tag sei noch zu kühl. Doch es kommen Milliarden von Zikaden aus dem Boden, um in den Bäumen zu «singen». Gegen 100 Dezibel laut wird eine männliche Zikade, etwa so laut wie ein Rasenmäher. In ihrem kurzen, oberirdischen Leben versucht sie so Weibchen zur Paarung anzulocken.
Der Kreislauf beginnt von vorne
Nach einigen Wochen ist das Spektakel vorbei. Die Zikaden sterben und fallen millionenfach aus den Bäumen. «Sie verfaulen und stinken», sagt Kritsky. Doch die verwesenden Zikaden würden dann zu Nährstoffen für die Bäume, die dann den Nachwuchs ernähren: Neue Zikaden schlüpfen aus den Eiern, fallen aus den Bäumen und graben sich in die Erde. Dort leben sie von Wurzelsaft und warten jahrelang, bis sie irgendwie wissen, dass es an der Zeit ist, von vorne zu beginnen.