Im Dezember ging Soha Kanj noch auf die Strassen Libanons, um gegen korrupte Politiker zu demonstrieren und um Gewalt zwischen Muslimen und Christen zu verhindern.
«Jetzt hat der Kampf gegen das Coronavirus oberste Priorität für die Frauen Libanons», sagt sie. Eine geplante Demonstration gegen Korruption finde nicht statt: Mütter seien mit ihren Kindern beschäftigt, die jetzt zuhause statt in der Schule lernen müssten. Die jahrzehntelange Nachlässigkeit und Verschwendung der Regierung mache die Situation mit dem Virus noch schlimmer.
Die jahrzehntelange Nachlässigkeit und Verschwendung der Regierung macht die Lage mit dem Virus noch schlimmer.
Die Regierung hat Ausgangssperren verhängt. Via WhatsApp schickt Soha Kanj ein Video, das die leeren Strassen Beiruts zeigt. «Die Armen können ihre Kinder nicht ernähren, weil sie jetzt nicht mehr arbeiten können», sagt Soha Kanj, die mit einer Frauenorganisation den Armen hilft.
Aus der nordlibanesischen Stadt Tripoli tönt es ähnlich. Monatelang war die zweitgrösste Stadt das Epizentrum der Proteste. Zuvor hatte Tripoli den Ruf einer Hochburg radikaler Islamisten. Dann machten Bilder Zehntausender tanzender Demonstrantinnen und Demonstranten im ganzen Land Furore.
Abed el Rahman Saade war einer der Mitorganisatoren in Tripoli. Nun sitzt auch er daheim. Weil die Leute wegen der Corona-Massnahmen der Regierung nicht mehr arbeiten könnten, litten viele Hunger, berichtet er. Dies mache ihm fast mehr Sorgen als das Virus: Erst vier Fälle seien bekannt, und die Betroffenen erholten sich, Gott sei Dank.
Die Menschen hungern, aber die Regierung hilft den Armen nicht.
Die Massendemonstrationen gibt es nicht mehr. Nun seien die Menschen damit beschäftigt, zu überleben: «Ein Taxifahrer mit vier Kindern, der nicht mehr fahren darf, kann sich entweder umbringen, ins Drogengeschäft einsteigen oder sich den Terroristen anschliessen», stellt Abed el Rahman Saade fest. Was die Proteste angeht, ist er pessimistisch: «In dieser Zeit vergessen die Menschen die Revolution.»
In dieser Zeit vergessen die Menschen die Revolution.
Grosse Stille auf dem Tahrir-Platz in Bagdad
Auch im Irak gehen die Menschen kaum mehr auf die Strasse. Jetzt, da keine Demonstrationen mehr auf dem Tahrir-Platz in Bagdad stattfinden, ist auch die junge Ärtzin Asrae daheim bei ihren Kindern. Sie behandelte damals freiwillig die vielen verletzten Demonstranten. Nun hat sie Angst vor dem Coronavirus.
«Techno guy» nennt sich ein Demonstrant, der im Januar jeden Tag auf dem Tahrir-Platz in Bagdad demonstrierte. Seinen richtigen Namen will er auch heute nicht nennen. Aus Angst, dass ihn diejenigen finden, die bis vor ein paar Wochen täglich Demonstranten töteten oder entführten.
Per Mail schickt er Bilder von Demonstranten, welche die leeren Zelte auf dem Tahrir-Platz desinfizieren. Nur wenige harren noch in den Zelten aus, um sie zu bewachen.
Doch selbst die Corona-Massnahmen sind politisch: Sie gelten offenbar nicht für die Pilgergruppen aus dem Iran, die das Virus erst eingeschleppt hätten, schreibt der Aktivist. Tatsächlich durften Pilger aus dem Iran erst kürzlich noch die Heiligtümer in Karbala besuchen und sogar die Schreine ihrer Heiligen küssen. Die Grossmacht Iran ist im Irak einflussreich, dagegen richteten sich auch die Demonstrationen.
In den sozialen Medien leben die Proteste im Irak und in Libanon weiter. Aber das Coronavirus und die Massnahmen der Regierungen entziehen vielen Menschen die Lebensgrundlage – und die Hoffnung auf eine echte Veränderung.