Die Einigung auf eine Waffenruhe in Nordostsyrien ist das Resultat von Gesprächen zwischen US-Vizepräsident Mike Pence und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Doch damit ist noch nicht alles geklärt. Thomas Seibert, Journalist in der Türkei, sagt, wie es weitergehen könnte.
SRF News: Machen die Kriegparteien wirklich eine Kampfpause?
Thomas Seibert: Die syrische Kurdenmiliz YPG hat in der vergangenen Nacht erklärt, es gebe weiter Angriffe der türkischen Armee in Nordostsyrien. Das ist von türkischer Seite noch nicht bestätigt worden.
Die ersten Reaktionen im Westen sind verhalten bis überrascht ausgefallen. Wie reagierte die YPG?
Im Prinzip sei man mit einer Waffenruhe einverstanden, hat ein hochrangiger Kommandeur der YPG erklärt, aber man werde sich nur aus einem bestimmten Gebiet auf einem Streifen von 120 Kilometern entlang der Grenze zurückziehen, nicht aus dem gesamten Grenzgebiet.
Die Kurden befürchten eine ethnische Veränderung und das lehnen sie ab.
Die YPG besteht darauf, dass die Türkei nicht in Nordsyrien bleiben darf, vor allem dürfe die Türkei keine demografischen Veränderungen herbeiführen. Damit spielt die sie darauf an, dass die Türkei bis zu zwei Millionen Flüchtlinge in der Sicherheitszone ansiedeln will. Die Kurden befürchten eine ethnische Veränderung und das lehnen sie ab.
Wie reagiert man in der Türkei auf die Kampfpause?
Die türkische Regierung von Erdogan und die regierungsnahe Presse bejubeln sie. Die Türkei habe alles bekommen, was man von den USA verlangt habe.
Auch in der türkischen Regierung war man offenbar vom Angebot von US-Vizepräsident Mike Pence überrascht.
Man will der YPG ermöglichen, ihre Kämpfer aus dem Grenzgebiet abzuziehen. Der Rückzug hat bereits begonnen. Hat die Kurdenmiliz gar keine andere Wahl?
Unter dem Druck des türkischen Angriffs hat sich die YPG an Russland und an die syrische Regierung in Damaskus gewandt. Inzwischen hat die syrische Armee mit russischer Unterstützung auch einige Gebiete besetzt, die zur türkischen Sicherheitszone gehören sollten.
Einen Durchbruch in den Gesprächen hat niemand erwartet, und doch ist er erreicht worden. Was ist passiert?
Aus innenpolitischen Gründen ist die US-Regierung auf alle Forderungen der Türkei eingegangen. US-Präsident Donald Trump wird vorgeworfen, die türkische Invasion überhaupt ermöglicht und die kurdischen Partner verraten zu haben. Er hat eine Krise ausgelöst und stellt sich nun als denjenigen dar, der diese Krise wieder löst. Auch in der türkischen Regierung war man offenbar überrascht vom Angebot von Pence.
Was will die Türkei?
Die Türkei will in Nordostsyrien ständig präsent sein. Sie will die Kurdenmiliz von der Grenze verdrängen und zwar bis zu 30 Kilometer in syrisches Gebiet hinein. Zugleich will die Türkei dort eine Sicherheitszone schaffen, um Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln zu können.
Die USA haben alle Bedingungen akzeptiert. Was bedeutet das für das nordsyrische Grenzgebiet?
Der nächste wichtige Termin ist am kommenden Dienstag. Dann reist Erdogan zu Wladimir Putin nach Russland. Russland ist die Schutzmacht der syrischen Regierung in Damaskus. Moskau möchte, dass die Türkei sich wieder aus Syrien zurückzieht und dass die syrische Regierung diese Grenzregion kontrolliert und nicht die Türkei. Es gibt Beobachter in Moskau, die damit rechnen, dass Putin den Rückzug der türkischen Truppen erreichen will.
Könnten die Auseinandersetzung zwischen syrischen Truppen, der YPG, russischen Truppen und der Türkei wiederaufflammen?
Ich glaube schon. Das Spiel, das beginnt, ist ein Spiel um die Macht in Nordostsyrien. Die USA haben sich selbst herausgenommen. Nun geht es darum, wer den grössten Einfluss hat.
Das Gespräch führte Salavdor Atasoy.