Michail Gorbatschow kommt auch mit 90 Jahren nicht zur Ruhe. Trotz Krankenhaus-Aufhalten und Isolation wegen der Corona-Pandemie meldet sich der Friedensnobelpreisträger oft zu Wort – mit seinen Sorgen um den Zustand der Welt.
«Nur keinen Krieg zulassen», sagt der frühere Sowjetpräsident in einem aktuellen Interview. «Frieden erhalten und eine Verbesserung des Lebens der Menschen erstreben!» Was er sich wünsche zu seinem Geburtstag am 2. März? «Freundschaft und Unterstützung.»
Keine deutsche Einheit ohne Gorbatschow
Zu seinem Jubiläum schaut der erste und letzte Sowjetpräsident auf viele geopolitische Grosstaten zurück: etwa auf die Deutsche Einheit, die er damals mit Bundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017) aushandelte. Damit beendete er den Kalten Krieg. Unvergessen ist auch seine Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung), mit der er die Menschen einst von kommunistischer Gewaltherrschaft befreite.
Bis heute gilt Gorbatschow als Freiheitssymbol, als jener Kremlchef, der nicht nur das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Er überliess ausserdem andere von Moskau bevormundete Ostblock-Staaten ihrem selbstbestimmten Schicksal. Zusehen musste er aber auch, wie sich in der Wende schliesslich die baltischen Staaten von der Sowjetunion lossagten – und wie am Ende das gesamte von Moskau mit Gewalt erhaltene kommunistische Imperium zusammenbrach.
Während die Deutschen ihn 1989 mit «Gorbi!, Gorbi»-Rufen empfingen und er insgesamt im Ausland immer beliebter wurde, verlor er im eigenen Land zunehmend an Autorität, wurde «zum Getriebenen, der seine gestalterische Rolle verloren hatte». Das schreibt der Autor Ignaz Lozo in der neuen Biografie zum 90. Geburtstag mit dem Titel «Gorbatschow. Der Weltveränderer».
In der Heimat verschmäht
Bis heute verachten viele Russen Gorbatschow als «Totengräber» der Sowjetunion, der die stolze Weltmacht zerstört habe. 30 Jahre ist das in diesem Jahr her. Und es war auch Gorbatschows Ende als mächtigster Mann in Moskau, als 1991 Boris Jelzin nach einem Putsch die Macht übernahm.
Lozo erzählt in seiner Biografie, wie Gorbatschow von einem strammen Parteifunktionär mit vielen Privilegien schon in seiner Heimatregion Stawropol, wo er in dem Dorf Priwolnoje 1931 zur Welt kam, zu einem der grössten Reformer des 20. Jahrhunderts wurde.
«Gorbatschow hat mehr als 164 Millionen Menschen in die Freiheit entlassen: 38 Millionen Polen, fast 16 Millionen Tschechen und Slowaken, 23 Millionen Rumänen, jeweils fast neun Millionen Bulgaren und Ungarn sowie rund 16 Millionen Deutsche in der DDR», schreibt er. Gescheitert sei er aber mit seinem Ziel, die Sowjetunion zu erhalten.
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Bild 1 von 8. Michail Gorbatschow war 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Präsident der Sowjetunion. Durch seine Reformpolitik läutet er das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion ein. (Bild von 1993). Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 8. Dezember 1988: Mitglieder des sowjetischen Politbüros wählen zuerst den sowjetischen Präsidenten Andrei Gromyko ab (unterste Reihe in der Mitte). Michail Gorbatschow (unterste Reihe rechts) wird danach zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 8. Aussenpolitisch betrieb Gorbatschow eine Entspannungsdiplomatie, die zur Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und schliesslich zur Beendigung des Kalten Krieges führte. Das Bild zeigt Gorbatschow 1986 mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan. Die beiden Politiker entschieden damals, intensiv miteinander zu reden. Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 8. Die von Gorbatschow begonnene Reformpolitik der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) zielte auf eine grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Erneuerung der Sowjetunion. Im Bild: Ein letzter Wortwechsel mit Reagan nach zweitägigen Gesprächen am 12. Oktober 1986 in Finnland. Bildquelle: Reuters.
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Bild 5 von 8. Abrüstung war für Gorbatschow ein zentrales Thema. Er wollte damit nicht zuletzt auch die extrem hohen Kosten für die sowjetische Rüstungsindustrie und das Militär reduzieren. Im Bild: Gorbatschow und Reagan unterzeichnen 1987 den Washingtoner Vertrag zur Vernichtung nuklearer Mittelstreckensysteme. Bildquelle: Reuters.
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Bild 6 von 8. Die von Gorbatschow betriebene Abkehr vom Vormachtanspruch der UdSSR innerhalb des Ostblocks ermöglichte den gesellschaftlichen Wandel in Mittel- und Osteuropa. Dafür erhielt er den Friedensnobelpreis. Nach dem Mauerfall 1989 stimmte die UdSSR der Wiedervereinigung Deutschlands zu. Im Bild: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl mit Gorbatschow. Bildquelle: Reuters.
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Bild 7 von 8. Die Perestroika zeichnete sich durch Experimente und Improvisationen aus, bei denen Gorbatschow zunehmend unter Druck geriet. Ein gegen ihn gerichteter Putsch konservativer Politiker und Militärs im August 1991 scheiterte am Widerstand der politischen Opposition um Boris Jelzin (im Bild rechts), dem Präsidenten der Russischen Föderation. Bildquelle: Reuters.
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Bild 8 von 8. Gorbatschow trat Ende August 1991 als KPdSU-Chef zurück. Nach der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) im Dezember 1991 und der damit besiegelten Auflösung der UdSSR gab er an Weihnachten 1991 auch das Präsidentenamt auf. Danach gründete er einen Fonds für soziale, wirtschaftliche und politische Forschungen (Gorbatschow-Stiftung). Bildquelle: Keystone.
Die desolate Wirtschaftslage zwang den kommunistischen Machtblock letztlich in die Knie. Gorbatschow, resümiert Lozo, habe von Wirtschaftsfragen wenig verstanden und sei deshalb wankelmütig und zaudernd gewesen.
Für den demokratisch gesinnten Teil der russischen Gesellschaft bleibt Gorbatschow auch mit seiner politischen Stiftung und als Miteigentümer der kremlkritischen Zeitung «Nowaja Gaseta» eine wichtige Stimme. Zwar lobt er Kremlchef Putin für dessen Aussenpolitik, darunter 2014 die Einverleibung der Krim. Doch kritisiert der Politiker, der sich heute als Sozialdemokrat sieht, auch die zunehmenden Repressionen unter Putin – und warnt vor einem Rückfall in die Diktatur.