Die Coronazahlen in Australien steigen. Einzelne Bundesstaaten sind wieder im Lockdown, weitere sollen folgen. Nur: Die Zahl der Neuansteckungen ist relativ niedrig. Warum also diese Nervosität? «Ganz einfach», sagt SRF-Mitarbeiter Urs Wälterlin. «Weil die Situation eskaliert.»
Im Bundesstaat New South Wales, in dem auch die Metropole Sydney liegt, wurden über Nacht 239 neue Fälle und zwei Todesopfer gemeldet. Das mag im Vergleich mit anderen Ländern nach wenig klingen, doch die Angst vor einem weiteren Anstieg ist begründet: Erst 17 Prozent der Bevölkerung sind geimpft. Australien ist damit weit unten auf der Liste vergleichbarer Länder.
Wegen der hohen Nachfrage müssen die Australier wohl noch bis Ende Jahr warten, bis der Impfstoff von Pfizer/Biontech eintrifft.
«Das Verrückte ist, dass die Impfquote gar nicht so tief sein müsste», erklärt Wälterlin. Australien habe genügend Zugang zum Impfstoff von Astra-Zeneca. Dieser wird als einziger Impfstoff in Australien selbst produziert. Andere, wie der von Pfizer/Biontech, müssen importiert werden. «Wegen der hohen Nachfrage müssen die Australier aber wohl noch bis Ende Jahr warten, bis dieser eintrifft.» Trotzdem besteht kaum Interesse an Astra-Zeneca.
Morrison plädierte für Abwarten
Dies hat mehrere Gründe, wie Wälterlin erklärt. «Einer ist die inkonsistente Informationspolitik der Regierung.» So sei zum Beispiel die Altersgrenze, ab wann Astra-Zeneca verabreicht werden darf, mehrfach geändert worden. Die Regierung sagte zeitweise, man solle auf Pfizer/Biontech warten. Premierminister Scott Morrison meinte, es sei kein Wettrennen, geimpft zu werden. «Das sollte aber nur davon ablenken, dass die Regierung viel zu wenig Impfstoff bestellt hat.»
Ein anderer Grund ist die Politisierung der Covidkrise. «Das ist vielleicht die grösste Tragödie», sagt Wälterlin. So sei der Lockdown in Sydney bisher nur halbherzig befolgt worden. Immer noch waren viele Läden offen. Man konnte sich vergleichsweise frei bewegen. «Deshalb war der Lockdown laut Experten zu wenig wirksam.» Diese «Pflästerlipolitik» – immer wieder ein bisschen Lockdown – sei das Resultat davon, dass man sich im konservativ regierten Bundesstaat nicht eingestehen wollte, dass ein hartes Durchgreifen funktioniert.
Lockdown in Melbourne hat gewirkt
Dies zeige sich in Melbourne im Bundesstaat Victoria: Dort wurden schon mehrfach sehr harte, aber wirksame Lockdowns verordnet. Der Bundesstaat an der Südküste des Landes wird von einer sozialdemokratischen Regierung geführt, die sich für ihr Vorgehen stets harte Kritik von der konservativen Bundesregierung anhören musste. «So ist es jetzt für die konservative Regierung in Sydney und für die Bundesregierung fast unmöglich, einzugestehen, dass die Methode der Sozialdemokraten, also der politischen Gegner in Melbourne, wirksam ist.»
Bei gewissen Ärzten stapeln sich die Astra-Zeneca-Ampullen, denn es fehlen ihnen die Oberarme.
Wälterlin befürchtet, die Regierung habe keinen Fahrplan, wie sie gegen den neuen Anstieg der Neuinfektionen vorgehen möchte. «Premierminister Morrison hat seit Beginn der Pandemie kaum jemals einen Weg vorgegeben. Man sollte also nichts von der Bundesregierung erwarten.» Selbst Malcolm Turnbull, immerhin Parteikollege und Vorgänger von Morrison, habe die Impfstoffverteilung diese Woche als «kolossales Versagen» bezeichnet.
Die Delta-Variante habe alles verschlimmert. Da sie viel ansteckender ist, drohe eine Überlastung des Gesundheitssystems. Impfungen seien nötig, sagen Experten. «Aber bei gewissen Ärzten stapeln sich die Astra-Zeneca-Ampullen, denn es fehlen ihnen die Oberarme, weil so viele Impfwillige auf die Pfizer-Biontech-Spritze warten, die irgendwann einmal kommt.»