Vor zehn Jahren hat der Arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang genommen. Seither wurde das Land demokratisch regiert. Die Ereignisse der letzten Tage lassen jedoch an den Errungenschaften der Revolution zweifeln. Der Staatspräsident, Kais Saied, hat den Regierungschef entlassen und die Arbeit des Parlaments kurzerhand für 30 Tage ausgesetzt. Vorangegangen waren Proteste gegen die Regierung. Saied versichert, sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen – Kritiker sprechen von einem Staatsstreich. Maghreb-Kenner Daniel Voll über eine Demokratie auf dem Prüfstand.
SRF News: Der Machtkampf zwischen Präsident Kais Saied und Regierungschef Hichem Mechichi dauert schon seit Monaten an. Worum geht es inhaltlich?
Daniel Voll: Neben der Macht geht es auch um unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer im Staat welche Rolle spielt. Präsident Saied hat schon vor seiner Wahl deutlich gemacht, dass er kein Freund der aktuellen Verfassung ist – er möchte als Präsident eine aktivere Rolle spielen. Heute hat er vor allem Spielraum, wenn es um die Ernennung von Ministerpräsidenten und der Regierung geht. Aber dann sitzt er in der zweiten Reihe und das behagt ihm nicht. Saied misstraut dem politischen Establishment und wirft ihm Unfähigkeit und Korruption vor. Das kommt bei seiner Basis gut an, vor allem bei vielen jungen Wählerinnen und Wählern.
Der Präsident wird heute von vielen auf der Strasse bejubelt, weil er die Regierung gestoppt hat. Diese wird verantwortlich dafür gemacht, dass die Wirtschaft schlecht läuft und die Corona-Zahlen so hoch sind. Sind die Vorwürfe berechtigt?
Sie sind bestimmt nicht völlig falsch. Die amtierende Regierung hat die Gefahren der Pandemie unterschätzt und ist mitverantwortlich dafür, dass Tunesien derzeit härter getroffen wird als Nachbarländer wie Algerien. Für die generelle wirtschaftliche Schwäche Tunesiens ist die Regierung aber nicht alleine verantwortlich. Sie trägt schwer am Erbe aller Vorgängerregierungen. Denn keine Regierung seit dem Sturz von Diktator Ben Ali hat Tunesiens Wirtschaft nach dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise wieder auf Touren gebracht.
Die tunesische Demokratie war von Anfang an sehr fragil. Tunesien ist das letzte Land, das nach dem Arabischen Frühling noch demokratisch regiert wird. Muss man zusammenfassend sagen: Der Arabische Frühling hat nichts gebracht?
Generell würde ich sagen, der Arabische Frühling hat schon vor Jahren dem Winter Platz gemacht. Die aktuellen Vorgänge könnten aber eine Wende der tunesischen Revolution werden. Es ist allerdings auch nicht die erste Krise in den letzten zehn Jahren. Bereits 2014 erlitt die Revolution eine erste schwere Krise. Dies nach dem Konflikt zwischen der moderat-islamischen Ennahda und den eher säkularen Parteien um die Verfassung. Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage, wie stark das islamische Recht darin einfliessen solle. Säkulare Kräfte setzten sich damals durch, die Islamisten lenkten ein und Tunesien gab sich eine fortschrittliche Verfassung.
Heute geht es auch wesentlich um die Stabilität des Landes, die durch die wirtschaftliche und politische Entwicklung stark gefährdet ist. Denn Demokratie schafft nicht nur Stabilität, sie braucht sie auch. Und wenn aus dieser Krise eine autoritäre Regierung entsteht, dann ist sie eine Gefahr für die Demokratie in Tunesien. Falls nicht, wird diese Krise vielleicht sogar zu einer Chance.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.