Die Reaktionen zum Sieg der Taliban über Afghanistan fallen unterschiedlich aus. Entsetzen bei den einen, Freude bei islamistischen Gruppierungen. Der Sieg der Taliban weckt Emotionen, das Schicksal der Menschen bewegt international. Die Reaktionen im Nahen Osten sind vielfältig, berichtet Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner.
SRF News: Welche Kommentare und Reaktionen sind Ihnen in diesen Tagen zu Ohren gekommen?
Susanne Brunner: Zunächst einmal viele Häme. Die USA sind in dieser Region wegen ihrer als sinnlos wahrgenommenen Kriege gar nicht beliebt. Entsprechend die Häme: Die USA haben Hunderte Milliarden von Dollar ausgegeben, waren 20 Jahre in Afghanistan, ohne klaren Sieg. Dann kommen die Taliban – die hier als primitive Kämpfer wahrgenommen werden im Vergleich zur Supermacht USA – und nehmen in wenigen Tagen das ganze Land ein.
Muslimische Kämpfer, die mit wenig militärischen Mitteln die USA in die Flucht schlagen. Wie gross sind die Sympathien für die Taliban bei der arabischen Bevölkerung angesichts dieser Bilder?
Ideologisch gibt es beim grössten Teil der arabischen Bevölkerung keine Sympathien mit den Taliban. Zu sehr liebt man in dieser Gegend Musik, Kultur, Feste. Und so religiös geprägt die Staaten hier sind, mit einer fanatischen Auslegung des Islam können die meisten nichts anfangen. Gleichzeitig gibt es auch diese unterschwellige Freude über einen David, der Goliath schlägt. Denn die USA haben, vor allem wegen des Krieges im Irak, ein sehr schlechtes Image – das einer rücksichtslosen Kolonialmacht.
Ideologisch gibt es beim grössten Teil der arabischen Bevölkerung keine Sympathien mit den Taliban.
Wie rücksichtslos zeigten die Bilder der Menschen, die sich in Kabul an Flugzeuge klammerten und zu Tode stürzten. Diese sorgen für Entsetzen, denn sie sind für die Menschen hier ein Sinnbild, wie unmoralisch die USA agieren: Krieg führen, dann alle, die ihnen geholfen haben, fallen lassen. Für viele haben die USA jegliche moralische Integrität verloren.
Wem wenden sich jetzt die verschiedenen arabischen Staaten zu? Von wem erwarten sie Unterstützung?
Da muss man trennen zwischen Hoffnung und Realismus. Im Irak beispielsweise hofft die Bevölkerung auf einen eigenen, unabhängigen Staat, in dem sie in Sicherheit leben können. Sie betrachten Grossmächte wie die USA, Russland und Iran als Hindernisse auf dem Weg dazu. Aber klar zeigt sich, wenn eine Grossmacht aussteigt, wird das Machtvakuum von einer anderen gefüllt.
Wenn eine Grossmacht aussteigt, wird das Machtvakuum von einer anderen gefüllt.
Und die Menschen wissen aus Erfahrung: Das heisst noch mehr Unsicherheit und Gewalt. Und an wen sich wenden, wenn sich selbst die eigenen Regierungen um die Sicherheit der Bevölkerung foutieren und derjenigen Macht hofieren, die ihnen am meisten Geld gibt?
Wie gross ist die Sorge in Israel – Verbündeter der USA – wegen dieser Entwicklung?
Sorge macht Israel das angeschlagene Image der USA. In Bezug auf die Taliban macht sich Israel Sorgen, denn die Taliban exportieren Terror, sie haben nun modernste Waffen. Israel wird seine Aussenpolitik neu ausrichten müssen. Die USA werden Israel weiter unterstützen, aber was nützt das am Boden, wenn die USA nicht präsent sind? Israelische Medien spekulieren darüber, dass Israel im Kampf gegen das schiitische Iran engere Beziehungen zu sunnitischen Regimes wie Saudi-Arabien pflegen will. Was Israeli und Araber quasi vereint, ist die Frage, ob sich die USA überhaupt noch für den Nahen Osten interessieren. Einige Kommentatoren sehen das als Chance, anderen macht es Angst.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.