Die Proteste in Iran reissen nicht ab. Entzündet hatten sie sich am Tod einer jungen Frau. Sie war in die Fänge der Sittenpolizei geraten, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig getragen haben soll. Die ARD-Journalistin Natalie Amiri kennt die iranische Sittenpolizei aus eigener Erfahrung.
SRF News: Wieso löst gerade der Fall der in Haft verstorbenen Mahsa Amini derartige Proteste aus in Iran – die strengen Kleidervorschriften gelten doch schon seit Jahrzehnten?
Natalie Amiri: Es brauchte bloss noch einen Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Die Unzufriedenheit in Iran ist enorm gross: Schon in den letzten Monaten kam es zu hunderten kleineren Protesten aus verschiedensten Gründen – wegen Wasserknappheit, Preissteigerungen bei Lebensmitteln, nicht ausbezahlter Gehälter oder Korruption.
Wegen der Kumulation verschiedenster Faktoren ist so viel Wut auf den Strassen zu sehen.
All diese Menschen gehen jetzt aufgrund ihrer Wut über den Mord an der jungen Frau auf die Strasse. Hinzu kommt, dass Mahsa Amini Kurdin war, und sich die Kurden grundsätzlich vom Regime nicht drangsalieren lassen. Wegen der Kumulation der verschiedenen Faktoren ist jetzt so viel Wut auf den Strassen zu sehen.
Eigentlicher Auslöser der Unruhen waren die Kleidervorschriften für Frauen in Iran. Wie sehen diese Vorschriften genau aus?
Eine Frau muss islamisch verhüllt sein. Sie muss also einen Mantel sowie ein Kopftuch tragen oder einen Tschador. Der Körper darf in seinen Formen nicht gezeigt werden – damit die Männer nicht erregt werden. Aus diesem Grund darf eine Frau im Übrigen auch nicht singen. Inzwischen sind viele Frauen schockiert und müde. Sie wollen sich das nicht mehr gefallen lassen.
Keine Haarsträhne darf hervorschauen – sonst wird die Frau in ein Auto gezerrt und in eine Verhörstation gebracht.
In der Realität ist es ja so, dass viele iranische Frauen das Kopftuch auf der Strasse inzwischen bloss noch wie ein modisches Accessoire tragen. Doch wenn die Sittenpolizei kommt, gilt das strikte Gesetz: Keine Haarsträhne darf hervorschauen, der Körper muss verhüllt sein. Sonst wird die Frau einkassiert, was bedeutet: in ein Auto gezerrt und in eine Verhörstation gebracht.
Woher kommen diese Kleidervorschriften für die Frauen?
Sie stammen aus der Scharia – den aus dem Koran und der Sunna abgeleiteten Gesetzen und Normen. Die Scharia steht über allem in der islamischen Republik. Je nach Regierung, politischer Atmosphäre oder Zustand der Gesellschaft werden diese Regeln etwas gelockert oder auch wieder angezogen.
Wie haben Sie die Kleidervorschriften im Alltag in Iran erlebt, als Sie noch dort gearbeitet haben?
Als Frau wird man ständig angesprochen, das Kopftuch «richtig» anzuziehen. Auf der anderen Seite taucht man in eine Parallelwelt ab, geht auf Partys, wo die Frauen Miniröcke tragen, die kürzer sind als bei uns. Diese Parallelwelt hat sich von der iranischen Machtelite schon vor langer Zeit abgespalten. Inzwischen hält nur noch die Machtelite am Ist-Zustand fest.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Behinderung des Internets ist eine immense Hürde. Die Menschen haben Schwierigkeiten, sich für Demonstrationen abzusprechen. Doch es ist wichtig, dass viele Menschen an den Demonstrationsorten auftauchen, damit nicht die Sicherheitskräfte sofort die Oberhand gewinnen. Viele hoffen jetzt auf Elon Musk, der dabei helfen soll, dass wieder Internet verfügbar ist. Doch Musk hat sich bislang noch nicht gemeldet.
Das Gespräch führte Raphael Günther.