Ist es richtig, dass Anti-Corona-Demonstrationen erlaubt werden, wenn diese dann zu Superspreader-Events werden – und andere Leute durch die darauf folgenden noch schärferen Massnahmen ihre wirtschaftliche Existenz verlieren? Der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier im Gespräch über das momentan angespannte Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit.
SRF News: Warum werden Demonstrationen erlaubt, bei denen von Anfang klar ist, dass die Teilnehmenden sich nicht an die Regeln halten würden – ist das nicht realitätsfremd?
Hans-Jürgen Papier: Das kann man so allgemein sicherlich nicht sagen. Man hat ja mal etwas scherzhaft gesagt, die Versammlungsfreiheit sei die Pressefreiheit des kleinen Mannes. Das ist ein ganz wichtiges Grundrecht. Andererseits: Wenn die Missachtung geltenden Rechts von vornherein feststeht, zum Sinn und Zweck der konkreten Demonstration gehört, dann kann diese Demonstration verboten werden. Es kommt auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an.
Aber Sie könnten doch jeden vernünftigen Menschen fragen und jeder würde Ihnen sagen: Sie wissen ganz genau, wie so eine Querdenken-Demo abläuft.
Dann kann sie letztlich nicht durchgeführt werden. Aber aus reiner Vorsorge, weil es zu Missachtungen geltenden Rechts kommen könnte, dann schon von einem generellen Verbot auszugehen, ist auch wieder nicht verhältnismässig. Wir müssen auch in solchen Krisenzeiten die Möglichkeiten von Demonstrationen – auch von solchen gegen das Regelwerk der Pandemiebekämpfung – zulassen.
Als Jurist sind Sie rational. Aber sind Sie als Bürger nicht empört? Sie dürfen nicht reisen, der Musiker darf nicht spielen, aber der Corona-Gegner darf demonstrieren. Verliert die Regierung nicht den Goodwill der disziplinierten Bevölkerung?
Es sollte und muss nicht so sein, dass das Versammlungsrecht uneingeschränkt ausgeübt werden kann in Zeiten von Corona. Schon vor der Corona-Pandemie hatten wir Personen, die die Demonstrationsfreiheit ausnutzten, um ganz gezielt und bewusst geltendes Recht zu brechen. Das sind Tendenzen, gegen die man sich ganz entschieden wehren muss.
Aber da landen Leute aus einem Risikogebiet mit dem Flugzeug in Berlin und berichten, es gebe null Kontrolle, null Tests. Man hält sich nicht an die Regeln, obwohl man mit 25'000 Euro bestraft werden kann. Das ist doch unsinnig?
Ich kann Ihnen überhaupt nicht widersprechen. Das verstärkt wiederum den Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat und kann mittel- oder langfristig zu dessen Erosion führen.
Man sollte aufpassen, dass man Normen nicht im Übermass erlässt, die dann gar nicht durchgesetzt werden können oder die letztlich kein Mensch ernst nimmt.
In Bayern zum Beispiel war es während des ersten Lockdowns im Frühling im Grunde unzulässig, wenn sich ein Rentner auf eine Parkbank setzte und ein Buch las – weil kein triftiger Grund für das Verlassen der Wohnung vorlag. Aber wer soll das kontrollieren? Man sollte also aufpassen, dass man Normen nicht im Übermass erlässt, die dann gar nicht durchgesetzt werden können oder die letztlich kein Mensch ernst nimmt.
Was hat man für ein Bild von seinen eigenen Bürgern, wenn man solche Regeln anordnet? Das sind doch keine Untertanen?
Ja, das ist ein weiteres Thema. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass man aus freien Bürgerinnen und Bürgern letztlich folgsame Untertanen machen möchte. Diese stehen dann zwar einem wohlwollenden, aber doch einem mehr oder weniger mit Ge- und Verboten agierenden Staat gegenüber. An den man sich auf die Dauer vielleicht sogar gewöhnt.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.