Vor dem Autofenster ziehen die letzten Moskauer Wohnblocks vorbei. Ein Autobahnring trennt die 12-Millionen-Metropole vom Umland. Am Strassenrand noch ein paar Tankstellen, Supermärkte mit grossen Parkplätzen.
Und schliesslich tut sich das Land auf: weite Felder bis an den Horizont, dazwischen immer wieder Dörfer. Podmoskovie heisst das Gebiet rund um die Hauptstadt. Es ist grösser als die Schweiz; hier haben die Moskauerinnen und Moskauer ihre Datschen.
Rund 70 Kilometer südlich von Moskau liegt die Datschensiedlung «Pikalovo». Gut hundert Häuser stehen hier, manche aus Holz, andere aus Backstein – meist hinter hohen, blickdichten Zäunen. Wenn man doch auf ein Grundstück sieht, dann sind da gepflegte Gärten, Kinderplantschbecken, Blumenbeete. Es ist eine bürgerliche Lebenswelt.
Hinter einem grossen grünen Tor öffnet sich das Reich von Elena, die sich einfach mit ihrem Vornamen vorstellt. Die pensionierte Deutschlehrerin trägt ein viel zu weites Sport-T-Shirt, Jeans und Hauslatschen – Datschenkleidung eben. Sie verbringt einen grossen Teil ihres Sommers auf der Datscha. «Was soll ich Ihnen zeigen?», fragt sie. «Ach, ich zeige Ihnen wie alles begann.»
Im hinteren Teil des Gartens öffnet Elena die Tür zu einem Holzhäuschen. Ein altes Kinderfahrrad, ein Sonnenschirm, ein paar Holzbretter stehen herum. Was heute eher Rumpelkammer ist, war einst Datschen-Wohnraum für die ganze Familie. Wie viele Sowjetbürgerinnen und -bürger hatten Elena und ihr inzwischen verstorbener Mann in den 1980er-Jahren vom Staat ein Stück Land bekommen. Den ersten Unterstand darauf zimmerten sie sich selber.
«Mein Mann hat dann aus dem Karton leerer Zigarettenschachteln das Modell eines Hauses gebaut. Das war sein Traum: ein solches Haus in gross zu haben», sagt Elena. Der Traum sollte Jahre später erst Wirklichkeit werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verdiente Elena als Übersetzerin ganz gut und mit dem Geld baute sich die Familie schliesslich das Kartonhaus in echt. Es ist ein zweistöckiges Gebäude mit Giebeldach und kleiner Terrasse geworden.
«Die Datscha ist ein Zustand der Seele»
Was bedeutet ihr diese Datscha? «Ich habe bloss eine kleine Wohnung in Moskau, nur zwei Zimmer. Ich liebe zwar das urbane Leben, aber hier draussen habe ich ein Stück Land, das mir gehört, wo ich die Chefin bin, wo ich für mich sein kann.»
Auch Karina, Elenas erwachsene Tochter, ist in diesem Pandemie-Jahr viel auf der Datscha. Sie sitzt in kurzen Hosen und mit Piloten-Sonnenbrille im Garten. Karina ist Top-Managerin im Kulturbereich. Sie schwärmt von ihren Reisen nach Westeuropa: Sie war in Italien, in Lugano, in Zürich.
Aber, sagt sie dann auch: «Hier ist meine Heimat. Und natürlich gefällt es mir hier. Wir waren heute Pilze sammeln – das gibt eine vorzügliche Suppe. Kommt hinzu: Die Datscha ist so etwas wie ein Museum meiner Kindheit, weil hier all die Gegenstände aus meiner Kindheit sind, die Teller und Tassen, die Lampen, die Möbel.»
Die Datscha – das ist für Karina Nostalgie. Dass die Verhältnisse eher einfach sind, es bloss ein Plumpsklo gibt, das stört sie nicht. Im Gegenteil: «Wir hätten das Geld, um uns ein richtiges, ein ‹zivilisiertes› Haus zu bauen, so wie es sie in Europa gibt. Aber das wäre nichts für mich. Denn bei der Datscha geht es nicht um Komfort. Die Datscha ist ein Zustand der Seele.»
Zu Besuch bei «Mister Datscha»
Die ersten Datschen, wenn man so will, waren die Sommerresidenzen der russischen Adligen. Die Kommunisten machten dann aus der Datscha ein Massenphänomen. Heute besitzen rund 40 Prozent der russischen Familien so ein Sommerhäuschen.
Eine andere Datschensiedlung, 50 Kilometer östlich von Moskau: Andrej Tumanow öffnet ein schweres Eisentor und lädt auf sein Grundstück ein. Wenn jemand etwas zum Thema Datscha sagen kann, dann er, Russlands «Mister Datscha».
Tumanow hat vor knapp 30 Jahren eine Datschen-Zeitschrift gegründet. Und Tumanow ist zu einer Art Sommerhäuschen-Cheflobbyist geworden. Zeitweise sass er sogar im Parlament.
«Datschenbesitzer sind Vorzeigebürger»
Er findet, der Staat müsse mehr tun für die Datschniki: «Immer wenn ich höre, der staatliche Energiekonzern Gasprom sei eine zentrale Stütze unserer Wirtschaft, dann sage ich: nein, wir Datschniki sind eine solche Stütze. Wir waren es, die Russland in den 1990er-Jahren vor dem Zerfall gerettet haben. Die Menschen konnten auf ihren Datschen wenigstens Gemüse pflanzen – und haben deswegen überlebt.»
Tatsächlich: In den 90ern war die Datscha für viele nicht nur Ort zum Ausruhen, sondern auch Existenzgrundlage. Diese Zeiten sind vorbei. Tomaten und Gurken gibt es in russischen Supermärkten genug.
Dennoch hält Tumanow die Datschniki für staatstragend: «Die Datschenbesitzer sind richtiggehend Vorzeigebürger: sie gehen kaum an Demonstrationen, sie bezahlen brav ihre Steuern. Und vor allem wollen sie, dass das System bleibt, wie es ist. Sie wollen keinen Umsturz – denn sie haben Angst, ihr Eigentum zu verlieren.»
Die Datscha also ist nicht nur ein Ort zum Träumen. Die Datscha stabilisiert das politische Regime.
Die Datscha als Kulturgut
Die Datscha ist aber auch Kulturgut. Musiker haben auf ihren Datschen komponiert, Schriftsteller haben geschrieben, Poeten gedichtet. Noch heute zieht es Moskaus Kultur-Intelligenzija für die Sommerfrische aufs Land.
Ein Sommerabend auf einer dieser Künstler-Datschen: Etwa zwei Dutzend Leute sind gekommen, Künstlerinnen, Journalisten, Musikerinnen. Es wird Wein getrunken und gegessen. Dann, als es schon dunkel ist, setzt sich die Gruppe um ein Lagerfeuer. Zwei Frauen und ein Mann singen Volkslieder aus den Tiefen Russlands. Lieder, die nach Sehnsucht tönen, nach alter Zeit.
Ein besseres Russland
Etwas abseits stehen Denis Lichin und Alexei Blinkin, zwei erwachsene Männer. Sie schwelgen in Kindheitserinnerungen. «Wie schön war das doch damals, all diese Freunde, die man auf der Datscha hatte», sagt Alexei. Und Denis ergänzt: «Vor allem, wenn man in den Gärten der Nachbarn rumschlich und Erdbeeren stibitzte.» Gelächter.
Alexei ist Musiker, Denis organisiert jedes Jahr ein grosses, alternatives Musikfestival. Beide sind passionierte Datschniki. Warum? Alexei erzählt: «Auf der Datscha geht es darum, die eigene Realität aufzubrechen. Die Datscha, das ist der Ort, an dem Du ein anderes Leben leben kannst.» Für ihn, sagt Alexei, sei die Datscha vor allem eine Emotion, ein persönliches Refugium. Denis allerdings bringt noch den politischen Aspekt ins Spiel.
«Wenn ein Politiker abgesägt wird, was sagt man dann? ‹Iwan Iwanowitsch ist auf die Datscha gefahren.›» Die Datscha als Ort des Exils. Ein Ausdruck aus der Sowjetzeit. Und sowjetische Verhältnisse schleichen sich ohnehin wieder ins Land, da ist Alexei einverstanden. «Unser Leben soll wieder in die gleichen Rahmen gepresst werden wie damals – und niemand fragt uns, ob wir einverstanden sind.»
Gerichtsurteile gegen Oppositionelle, Festnahmen, der Giftanschlag auf Nawalny. 2020 ist ein Jahr mit vielen dunklen Wolken in Russland. Denis zitiert den russischen Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky, den die Sowjets erst ins Gefängnis geworfen hatten – und dann ins Ausland zwangen: «Wenn man schon in einem Imperium leben muss, dann wenigstens in einem kleinen Häuschen am Meer.»
Die Datscha ist eben mehr als ein Sommerhäuschen. Sie ist Fluchtort, sie ist Erinnerung an die Kindheit, ein Ort zum Glücklichsein: ein anderes, ein besseres Russland.