Bevor das Interview beginnen kann, muss die kurdische Rechtsanwältin Eren Keskin noch einmal ans Handy. Es ist ihre 86-jährige Mutter. Sie will sich vergewissern, ob die Tochter noch in Freiheit ist. Mehrmals am Tag fragt die alte Dame nach und das nicht etwa, weil sie vergesslich wäre. Tatsächlich kann Keskin jeden Augenblick im Gefängnis landen.
«Jeden Morgen wache ich mit der Frage auf, ob ich heute ins Gefängnis komme. Es ist anstrengend so zu leben», sagt Keskin. Sie habe eine alte Mutter, Katzen und eine Kanzlei. Sie müsse regeln, wie alle versorgt werden, wenn sie ins Gefängnis müsse. «Eigentlich ist es unfassbar, dass Menschen in diesem Jahrhundert noch eingesperrt werden, weil sie anders als der Staat denken.»
Insgesamt kommen Haftstrafen auf mich zu, die ich in meinem Leben nicht absitzen kann.
Wie oft sie schon vor Gericht gestellt worden ist, weil sie anders denkt? Keskin weiss das selbst nicht mehr. 143 Verfahren sind aktuell gegen sie hängig, da sie sich mit der kurdischen Zeitung «Özgür Gündem» solidarisiert hatte. Deshalb wird sie für deren Berichte verantwortlich gemacht, denn die Justiz wertet diese als Terrorpropaganda.
Bereits sind die ersten Urteile gefallen, nun liegen sie Berufungsrichtern vor. Diese können sie jeden Moment und ohne Verhandlung bestätigen. Derzeit liege den Richtern eine Verurteilung zu 12,5 Jahren Haft vor. Aber das sei längst nicht alles: «Insgesamt kommen Haftstrafen auf mich zu, die ich in meinem Leben nicht absitzen kann», sagt Keskin. Zudem sei sie zu hohen Geldstrafen verurteilt worden, die sie versuche in Raten abzustottern. «Verpasse ich eine Rate, komme ich sofort in Haft.»
Auch alternative Organisationen haben militärische und patriarchale Strukturen.
Keskin informiert auf Symposien und Konferenzen über die Menschenrechtsverletzungen an Frauen hinter Gittern und über Gewalt gegen Frauen in allen Gesellschaftsbereichen. Sie kritisiert nicht nur den Staat und seine Strukturen, Keskin prangert ebenfalls den Chauvinismus in den eigenen Reihen an: «Auch alternative Organisationen haben militärische und patriarchale Strukturen», sagt sie.
Das sei ihr im Gefängnis sehr aufgefallen, dass auch bei oppositionellen Gruppierungen immer die Männer das Sagen hatten. Sie wertet das als einen Widerspruch: «Einerseits wenden wir uns gegen diesen Staat, andererseits kopieren wir seine Strukturen. Davon müssen wir uns befreien.»
Abschied für immer?
Trotz der drakonischen Strafverfolgung kommt für Keskin eine Flucht ins Ausland nicht infrage. «Wird man verurteilt und flieht, wird das schnell vergessen. Bleibt man aber und geht ins Gefängnis, wird das öffentlich diskutiert.» Das bewege etwas.
Sie sei 1995 ins Gefängnis gegangen, obwohl sie hätte fliehen können, denn sie sei davon überzeugt, «dass wir unseren Kampf aus dem Gefängnis fortsetzen können. Deshalb verlasse ich das Land nicht». Statt sich ins Ausland abzusetzen, packt Eren Keskin ihren Koffer für das Gefängnis. Für die Mutter und die Katzen hat sie Betreuung gefunden. Wenn der Vollzugsbescheid kommt, wird sie sich von ihnen verabschieden müssen. Vielleicht für immer.
Keskin glaubt daran, was sie tut. «Und das respektieren sogar meine Gegner.» So sei sie noch nie von einem Richter beleidigt worden: «Sie haben mich alle immer mit Bedauern verurteilt», sagt sie, um weiter zu erklären: «Trete ich nicht dafür ein, woran ich glaube, verliere ich meine Selbstachtung.»