Der Sprecher der palästinensischen Sicherheitskräfte, General Talal Dwekat, sitzt in Ramallah an seinem Bürotisch unter den Porträts der bisher beiden einzigen Palästinenserpräsidenten: Yassir Arafat und Mahmoud Abbas. Dwekat ist ein treuer Parteisoldat: Er ist Politkommissär der regierenden Fatah-Partei. Auf die Frage, warum seine Sicherheitskräfte einen friedlichen palästinensischen Kritiker mitten in der Nacht verhafteten und zu Tode prügelten, holt er zunächst aus.
Vierzehn Polizisten gegen einen Behördenkritiker
«Wir als Staatsbehörde befinden uns unter israelischer Besatzung.» Er erklärt die Aufteilung des besetzten Westjordanlandes in Zonen, die vollständig oder teilweise unter israelischer Kontrolle sind. Während israelische Sicherheitskräfte überall machten, was sie wollten, brauche die palästinensische Polizei von den Israelis häufig eine Einsatzbewilligung – auch in Hebron, wo der bekannte Aktivist Nizar Banat wohnte.
Die palästinensische Polizei durfte Banat in Hebron also nicht verhaften. Deshalb habe man ihn mehrmals telefonisch auf den Polizeiposten beordert. Aber Banat sei nicht erschienen, sagt Talal Dwekat.
Also habe man möglichst unauffällig in der Nacht vierzehn Polizisten nach Hebron geschickt, um ihn zu verhaften – dabei sei er umgekommen.
Die Behörden hätten sofort eine Untersuchung eingeleitet und die Beteiligten verhaftet. Banats Tod sei ein Versehen gewesen, sagt der Sprecher der palästinensischen Sicherheitskräfte. Vierzehn Polizisten, um einen Kritiker zu verhaften? Talal Dwekat rechtfertigt das Aufgebot: «In Hebron dürfen palästinensische Sicherheitskräfte weder Uniformen noch Waffen tragen, deshalb waren es so viele», sagt er – ohne zu sagen, ob die Israelis von diesem Einsatz wussten. Bei Banats Verhaftung seien unverzeihliche Fehler passiert.
«Aber so etwas passiert selbst in demokratischen Staaten, die an Menschenrechte glauben: Amerika, Frankreich, Grossbritannien», sagt der General und verspricht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Nizar Banats Tod ist nicht nur schockierend, er ist eine Eskalation.
Für die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al Haq in Ramallah ist der gewaltsame Tod von Nizar Banat besorgniserregend. Die Organisation dokumentiert israelische und palästinensische Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten seit 1979.
«Sein Tod ist nicht nur schockierend, er ist eine Eskalation: Nizar Banat wurde mehrmals verhaftet, sogar gefoltert, wie auch viele andere Kritiker, Medienschaffende und Menschenrechtsaktivisten,» sagt die Al- Haq-Anwältin Catherine Abuamsha. Was passiere, sei ein Zeichen einer massiven Verschlechterung der Menschenrechtssituation im palästinensischen Westjordanland.
«Es macht, ehrlich gesagt, Angst», sagt Catherine Abuamsha. An den Demonstrationen gegen die palästinensische Autonomiebehörde nach dem Tod von Nizar Banat dokumentierte Al Haq willkürliche Verhaftungen. Selbst die Handys von Mitarbeitenden der renommierten Menschenrechtsorganisation seien beschlagnahmt worden.
«Sie wollen uns zum Schweigen bringen, damit die Welt nichts von diesen Menschenrechtsverletzungen erfährt,» sagt Catherine Abuamsha von Al Haq.
Eine Generation fühlt sich nicht vertreten
Für die palästinensische Autonomiebehörde bedeutet der gewaltsame Tod von Nizar Banat einen grossen Imageschaden in der eigenen Bevölkerung. Besonders bei der Generation, die als Jugendliche oder junge Erwachsene im Jahr 2000 das Scheitern des Oslo-Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinensern erlebte.
Diese Generation fühlt sich weder von der militanten Hamas in Gaza noch von der Palästinensischen Autonomiebehörde im besetzten Westjordanland vertreten. Zu dieser Generation gehörte der Aktivist Nizar Banat, der mit 43 Jahren getötet wurde.
Doppelt unterdrückt
Männer im besetzten Westjordanland sterben oft jung. Alleine in diesem Jahr töteten israelische Soldaten hier mehr als 40 meist junge Palästinenser. Diese Gewalt gehört für die meisten jungen Palästinenser zum Alltag.
Ich fasse es nicht, wie brutal sie ihn umgebracht haben.
Dass die eigenen palästinensischen Sicherheitskräfte einen friedlichen Kritiker umbrachten, schmerze jedoch viel mehr, sagt der 33-jährige Sozialarbeiter und Menschenrechtsaktivist Fadi. Er stammt aus einem Vorort von Ramallah und war mit Nizar Banat befreundet.
«Ich fasse es nicht, wie brutal sie ihn umgebracht haben», sagt er. Tausende gingen nach der Ermordung Nizar Banats auf die Strasse, um gegen die eigene, autoritäre palästinensische Führung zu demonstrieren – auch Fadi. An den Demonstrationen schockierten ihn die palästinensischen Sicherheitskräfte abermals.
«Wir sahen, wie demonstrierende Frauen belästigt oder sogar tätlich angegriffen wurden. Sie beschossen uns mit Tränengas- und Blendgranaten – also mit denselben Waffen, die israelische Soldaten gegen uns verwenden und die sie unseren Sicherheitskräften abgeben, damit diese sie gegen die eigene Bevölkerung einsetzen», sagt Fadi.
Nach den Protesten hätten er und andere Demonstranten Morddrohungen erhalten oder seien gar verhaftet worden. «Sie benahmen sich wie jedes andere autoritäre Schurken-Regime – nur ist es für uns schlimmer, weil wir doppelt unterdrückt werden: von den Israelis und von der palästinensischen Autonomiebehörde, die für sie die Drecksarbeit verrichtet.» Fadi bricht damit dasselbe Tabu wie der getötete Aktivist Nizar Banat auf seinem Facebook-Kanal.
Palästinensische Jugend unter Terrorverdacht
Die Zusammenarbeit zwischen israelischen und palästinensischen Sicherheitskräften in den besetzten Gebieten geht auf die Oslo-Friedensverträge der 1990er Jahre zurück. Palästinensische Sicherheitskräfte sollten in Gaza und im Westjordanland für Ruhe und Ordnung sorgen – und zum Beispiel Informationen über Terrorverdächtige mit dem israelischen Militär teilen.
Für Israels Sicherheit ist diese Zusammenarbeit gut. Die palästinensische Bevölkerung hat jedoch nichts davon – im Gegenteil: Sie wähnt sich heute in einem grossen, total überwachten Gefängnis, in dem sie nichts zu sagen hat. Hauptleidtragende sind Junge wie Fadi. Wen auch immer sie kritisierten – Israel oder die eigene palästinensische Führung – sie würden sofort als mutmassliche Terroristen verdächtigt.
Hunderte von jungen Palästinensern und Palästinenserinnen sind in den letzten Jahren von israelischen und palästinensischen Sicherheitsbehörden verhaftet worden: «Egal, ob sie in Jugendgruppen Bäume pflanzen oder politisch aktiv sind», sagt Fadi.
Selbst Funktionäre sind vor Repression der eigenen Regierung nicht sicher. Der 43-jährige Schriftsteller und Akademiker Ehab Bessaiso ist ehemaliger palästinensischer Kulturminister und war bis vor kurzem Leiter der palästinensischen Nationalbibliothek. Als er in den sozialen Medien seine Trauer über den gewaltsamen Tod des Aktivisten Nizar Banat ausdrückte, entliess ihn Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. Ein Schock für Ehab Bessaiso. Gleichzeitig versteht er, warum die palästinensische Führung den Fall Nizar Banat am liebsten totschweigen würde.
Bessaiso zählt die Etappen auf, die dazu führten: Die PLO, die eine Kooperation mit Israel einging – als Preis für Frieden und einen eigenen Staat, der nie Wirklichkeit wurde: Der Oslo-Friedensprozess scheiterte und endete in Gewalt. Israel baut bis heute seine Siedlungen in den besetzten Gebieten ungebremst aus.
Die palästinensische Führung ist gespalten, und längst nicht mehr demokratisch legitimiert. Die militante Hamas in Gaza setzt auf Gewalt gegen Israel, die Fatah im Westjordanland auf Kooperation mit Israel: Beide haben in den Augen vieler Palästinenserinnen und Palästinenser versagt. Über all das habe Nizar Banat gesprochen.
Demokratische Wahlen als Ausweg
«Nizar Banats Tod ist nicht einfach ein palästinensischer Zwischenfall: warum er getötet wurde, hat mit all diesen Konflikten zu tun.» Den einzigen Ausweg für die palästinensische Bevölkerung sieht Ehab Bessaiso in demokratischen Wahlen. Diese hätten erstmals nach 15 Jahren dieses Jahr stattfinden sollen: Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas sagte sie jedoch ab.
Die internationale Gemeinschaft bedauerte den Entscheid und atmete gleichzeitig auf – denn sie fürchtete abermals einen Wahlsieg der Hamas, den sie schon 2006 nicht akzeptierte. Ohne Wahlen sei jedoch gar nichts gelöst – für niemanden, sagt der palästinensische Schriftsteller Ehab Bessaiso. «Die Tötung von Nizar Banat hat gezeigt: alle diese Faktoren treiben die Palästinenser an den Rand der Verzweiflung.»
Die Demonstrationen für eine Aufklärung der Tötung von Nizar Banat gehen im Westjordanland weiter – ebenso die Verhaftung von Kritikerinnen und Kritikern. Schweigen werden diese jedoch nicht. Ausser, man bringt sie um – wie Nizar Banat.