«Wenn's nicht so lief, dann kamen immer diese Zweifel: Wo kommt sie her, hat sie wirklich verstanden, was Freiheit ist, kennt sie unsere Werte?», erzählt Merkel im Deutschen Theater über die persistenten Vorurteile ihrer DDR-Biografie gegenüber. Mit authentischem Auftritt und Machtinstinkt gelang ihr eine beispiellose Karriere ins mächtigste Amt der Bundesrepublik. Mit den Memoiren will Merkel die Deutungshoheit ihrer 16-jährigen Regierungszeit erlangen.
Denn nach ihrer Amtszeit zeigten sich immer deutlicher ihre Versäumnisse etwa in der Migrationspolitik. Auf viel Kritik stösst auch ihr Verhältnis zum russischen Präsidenten Putin. Sie hielt auch nach dessen Krim-Annexion 2014 an der Gaspipeline Nord Stream 2 fest. «Im Blick auf die billige Energie, auf die Wirtschaft, aber auch politisch, habe ich versucht, diese Beziehung nicht völlig zu kappen. Ich persönlich halte das auch im Rückblick für keinen Fehler», sagte Merkel.
Die schwäbische Hausfrau macht sich locker
Merkel bezieht sich im Buch auch auf die Gegenwart. Die Regierung unter Kanzler Scholz zerbrach an der Schuldenbremse, die dem Staat bei den Ausgaben Grenzen setzt. Der Bruch der Regierung wurde zum persönlichen Drama. Merkel dachte da: Typisch Männer, wie sie dem Magazin «Spiegel» verriet. Die Schuldenbremse aber hielt sie selbst einst hoch. Die schwarze Null, also den ausgeglichenen Staatshaushalt, verknüpfe sie mit dem Bild der «schwäbischen Hausfrau» – einem Sinnbild für die Tugend des Sparens.
Dass Merkel daran festhielt, sei ihrer Herkunft geschuldet, schreibt Autor Eckart Lohse in seinem Buch über Merkel. Viele in der CDU hätten an ihrer ökonomischen Expertise gezweifelt. Merkel habe beweisen wollen, dass es mit ihr nicht zu «finanzieller Instabilität» komme. Doch nun plädiert Merkel für eine Reform der Schuldenbremse, auch «um Verteilungskämpfe in der Gesellschaft zu vermeiden». Denn es sei mit all den Krisen eine «ungewohnt ernste Situation, wie ich sie in meiner Amtszeit nicht hatte». Die Schuldenbremse verunmöglicht wichtige Investitionen in einem Land voller Baustellen. Eine Lockerung wird auch der CDU entgegenkommen, sobald sie an der Macht ist.
Geschichte einer ganzen Generation
Merkels Autobiografie war mit Spannung erwartet worden. Erst recht, weil sich Merkel in den letzten drei Jahren kaum in der Öffentlichkeit geäussert hatte. Ihr Blick auf die Geschichte, die sie 16 Jahre lang prägte, mag jene enttäuschen, die sich ein grosses Mea culpa oder intime Einblicke hinter die Kulissen der Macht erhofft hatten. Merkel ist genauso wenig selbstkritisch, wie ihre Vorgänger.
Entstanden ist aber eine akribisch zusammengetragene Chronik, die subjektive Sicht einer aussergewöhnlichen Politikerin auf ihre Geschichte. Und wie sagte eine Frau, die sich ein Exemplar in der Buchhandlung sicherte? «Das ist auch meine Geschichte, es ist unser aller Geschichte.»