Ehrgeizige Ziele hat Charles Michel für seine Amtszeit angekündigt, doch den eigenen Ehrgeiz soll er nicht offen zur Schau tragen. Als Präsident des Europäischen Rates leitet er ab 1. Dezember das Gremium der Staats- und Regierungschefs, das Machtzentrum der EU. Er bestimmt die Tagesordnung, muss in langen Gipfelnächten Kompromisse schmieden.
Anders als sein extrovertierter Vorgänger Donald Tusk aus Polen soll der Belgier Michel diskret zwischen den EU-Staaten vermitteln. Das zumindest ist die Erwartung der 28 Staats- und Regierungschefs, die ihn am 2. Juli einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt haben.
Politik in die Wiege gelegt bekommen
Einen Mann, dem die Politik in die Wiege gelegt wurde. Vater Louis Michel war belgischer Aussenminister, Vizepremierminister und EU-Kommissar, bis heute zählt er zu den beliebtesten Politikern des Landes. Charles tritt der Partei seines Vaters bei, dem liberalen Mouvement réformateur (MR), wird Rechtsanwalt und durchläuft eine politische Blitzkarriere: mit 18 Regional-, mit 23 Bundesparlamentarier, mit 31 Minister in der Zentralregierung. 2014, als 38-Jähriger, wird er belgischer Premierminister.
Ein schier unmöglicher Job, denn Belgien ist nicht nur hoch verschuldet, sondern auch tief gespalten. Auf der einen Seite das französischsprachige Wallonien, aus dem Michel stammt und das mehrheitlich links wählt. Auf der anderen das niederländischsprachige Flandern, wo die stärkste Partei, die national-konservative Nieuw-Vlaamse Alliantie (NVA), die Aufspaltung Belgiens fordert. Auch im belgischen Alltag ist die Feindseligkeit zwischen den beiden Volksgruppen spürbar.
Die separatistische NVA stellt in der Mitte-Rechts-Regierung von Charles Michel die meisten Minister. NVA-Chef Bart de Wever gilt als Strippenzieher im Hintergrund. Viele Beobachter sehen in Michel bloss eine Marionette, geben ihm einige Monate, maximal ein paar Jahre an der Spitze des Landes.
Gewiefter Machtpolitiker
Im Gegensatz zu seinem Vater schafft es Charles Michel nicht, die Herzen der Belgier zu erobern. Kritiker beschreiben ihn als unterkühlten Opportunisten. Seine Sparpolitik macht ihn bei den linken Frankophonen unbeliebt, es kommt zu Streiks und Unruhen. Als das Land 2015 von islamistischen Terroranschlägen heimgesucht wird, kommt Kritik von rechts. Als Frankophoner ist Michel vielen Flamen ohnehin suspekt.
Doch Michel bleibt Premierminister, ganze vier Jahre lang, eine halbe Ewigkeit in der belgischen Politik. Ganz offensichtlich ist er ein gewiefter Machtpolitiker. Er weiss, wie man Intrigen übersteht und Kompromisse schmiedet.
Seine Regierung bricht erst auseinander, als im Dezember 2018 der Streit über den Migrationspakt der Vereinten Nationen eskaliert. Der Premierminister unterzeichnet den Pakt, die NVA verlässt aus Protest die Regierung. Bis zu den Neuwahlen im Mai 2019 bleibt Michel geschäftsführend im Amt.
Und beweist dann erneut, dass er ein gewiefter Machtpolitiker ist. Im Rat der Staats- und Regierungschef, dem Machtzentrum der EU, hat er beste Kontakte geknüpft. Aus den EU-Wahlen im Mai 2019 geht die liberale Parteienfamilie Renew Europe, der auch das MR angehört, gestärkt hervor. Seine Renew-Kollegen, allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron, nominieren ihn als Nachfolger des abtretenden Ratspräsidenten Donald Tusk.
Und so gelangt Michel mit 43 an die Spitze der EU – mit dem Instinkt für Macht und Kompromisse, die ihm als belgischer Politiker in die Wiege gelegt worden war.