Der Streit um die Verteilung der Flüchtlinge in der EU wird so intensiv geführt wie lange nicht mehr. Ein kurzfristiger Verteilmechanismus sei denkbar, aber nur als Teil eines Stufenplans mit einer grundlegenden Reform der Dublin-Regeln zur Zuständigkeit der Asylanträge, sagt Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück.
SRF News: Warum schafft es die EU nicht, sich auf einen gemeinsamen Verteilschlüssel der Migranten zu einigen?
Jochen Oltmer: Zum einen ist zurzeit noch völlig unklar, wie ein solcher Verteilmechanismus aussehen sollte. Zum anderen hat das Thema Migration/Flucht in vielen europäischen Ländern ein enormes Mobilisierungs- und Empörungspotenzial. Dadurch haben viele Regierungen und Parteien den Eindruck, damit Wahlen gewinnen zu können.
Wo funktionieren diese politischen Parolen zur Migration besonders gut?
Innenpolitische Debatten gibt es in praktisch allen europäischen Staaten. Es geht um nationale Vorstellungen über Geschlossenheit und Homogenität. Ängste vor dem Islam und Terrorismus werden bedient, aber auch vor hohen Sozialleistungen und dem Verlust von Stabilität und Sicherheit. Vor allem Osteuropa zeigt keinerlei Bereitschaft, irgendwelche Mechanismen anzunehmen.
Laut Dublin ist das Ankunftsland für das Asylgesuch zuständig. Ist der Ruf nach Reformen bei den Mittelmeer-Anrainern besonders gross?
In der Tat. Umso verwunderlicher, dass in den letzten Tagen relativ wenig über das Dublin-System gesprochen wurde. Denn das wäre bei der Diskussion über einen Verteilmechanismus vordringlich. Offensichtlich haben diverse Akteure ein grosses Interesse, das Dublin-System beizubehalten. Das bringt Ungleichheiten mit sich. Staaten in der Mitte Europas und dabei vor allem Deutschland sind fein raus, weil sie faktisch überhaupt niemanden aufnehmen müssen.
Offensichtlich haben diverse Akteure ein grosses Interesse, das Dublin-System beizubehalten.
Um die Ankommenden und die Anträge müssen sich vor allem die südeuropäischen Staaten kümmern, die zudem die Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 noch nicht so lange verdaut haben wie etwa Deutschland. Entsprechend sperren sich Staaten wie Italien gegen jede Regelung zu einem Verteilmechanismus und pochen auf grundlegende Reformen. Und das in einer Zeit, wo vergleichsweise wenige Flüchtlinge ankommen.
Warum setzt sich die Idee von Ankunftszentren in afrikanischen Durchgangsländern nicht durch?
Die Ideen zu solchen Ankunftszentren sind nicht sehr weit gediehen. Es gibt keinen echten Plan. Zudem hat in Nordafrika niemand ein Interesse daran. Und zwar mit Blick auch auf jene, die hängenbleiben, weil sie von Europa keinen Schutzstatus bekommen.
Der EU-Innenkommissar forderte gestern einen vorläufigen Verteilmechanismus. Ist das mehrheitsfähig?
Angesichts der Widerstände ist nicht davon auszugehen. Allenfalls wird die vielzitierte «Koalition der Willigen» erste Perspektiven für einen solchen Schlüssel aufgleisen. In der aktuellen Diskussion kommt zudem nicht zum Ausdruck, dass ein solcher Verteilmechanismus die Herausforderungen nur sehr begrenzt angeht. Nötig wäre vielmehr ein Stufenplan. Dabei könnte die «Koalition der Willigen» kurzfristig Verteilmechnanismen entwickeln, müsste aber gleichzeitig das Seenotrettungssystem im Mittelmeer anders aufbauen – mit eigenen Seenotrettungseinheiten. Mittelfristig bräuchte es dann eine grundlegende Reform der Dublin-Regeln.
Mittelfristig müssen die Dublin-Regeln grundlegend reformiert werden.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.