Jedes Rettungsschiff im Mittelmeer, das Kurs auf Italien nimmt, macht derzeit Schlagzeilen – oft tagelang. Es entsteht der Eindruck, als sei die Migration das zentrale Problem Italiens. Eine Täuschung, so Damiano Cantone. «Betrachtet man es rational, dann steht das Migrationsproblem sicher nicht an erster Stelle», sagt der Philosoph, der an der Universität Triest lehrte und heute unter anderem eine Kulturzeitschrift leitet.
Tiefe Löhne, hohe Arbeitslosigkeit, eine zunehmende Verarmung des Mittelstands sind die Stichworte. Jene beiden Parteien, die die Wahl vom März gewannen, das Movimento Cinque Stelle und die Lega, sprechen genau diese Negativstimmung an. Und vorab die Lega, analysiert Cantone, verbinde dabei die Probleme vieler Italiener mit der Migration.
Ein Wütender, ein Frustrierter braucht einen Gegner, am besten einen, der vor ihm steht. Diese Rolle spielen die Migranten.
«Es entsteht der Eindruck, als hätten die Migranten den Italienern ihr Glück geraubt», sagt Cantone. Es sei viel Neid entstanden, ja geschürt worden, auch mit nachweislich falschen Behauptungen. Etwa: Die Migranten lebten in Hotels oder erhielten täglich 35 Euro Taschengeld.
Salvini sagte kurz nach seiner Ernennung zum Innenminister: «La pacchia è finita», die Schlemmerei der Migranten auf Kosten der Italiener sei vorbei. Philosoph Cantone, der sich mit Ästhetik und Film beschäftigt, interpretiert Salvinis Botschaft so: Die Italiener müssten den Migranten das Schlemmen verbieten, um es für sich selbst zurückzugewinnen. Salvini schwinge sich zum Garanten für das gute, das schöne Leben auf.
Salvini zelebriert das schöne Leben
Auch darum, sagt Cantone, zeige sich Salvini den Italienern regelmässig auf Facebook beim Essen, hinter einem reichlich gefüllten Teller. Zuweilen auch mit vollem Mund oder entblösstem, rundlichem Bauch: «Salvini trinkt Bier im Trentino, natürlich vor laufender Kamera; er isst Frittiertes am Meer oder in Ligurien die leckeren, lokalen Teigwaren, die Trofie.» Ein Versprechen, eine Verheissung: Zustände wie im Schlaraffenland für alle Italienerinnen und Italiener.
Doch warum sollen gerade Migranten den Italienerinnen und Italienern vor ihrem Glück stehen, es gar gestohlen haben? Migranten, die, betrachtet man sie auch nur ein bisschen näher, oft von Entbehrungen, Elend und vom Krieg gezeichnet sind.
Wäre es nicht naheliegender die Schuld anderen zuzuweisen? Den Globalisierern, EU-Bürokraten, Kapitalisten? Viel zu abstrakt, sagt Cantone: «Ein Wütender, ein Frustrierter braucht einen Gegner, am besten einen, der vor ihm steht.» Diese Rolle spielten die Migranten. Ein Phänomen, das er nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern Europas beobachte.
Faschismus-Keule ist unangebracht
Tatsächlich ist Salvini daran, für die Europa-Wahl vom nächsten Frühjahr Allianzen mit rechten Parteien auch anderer EU-Länder zu schliessen. Dabei wird der neue starke Mann Italiens zuweilen in die faschistische Ecke gestellt. Davon hält Cantone wenig.
«Die Bezeichnung faschistisch trifft derzeit weder auf die Lega noch auf Matteo Salvini zu.» Unter Mussolini hätten Italiens Faschisten die Demokratie abgeschafft, politische Gegner ins Gefängnis gebracht, sie gar ermorden lassen. Darum gehe es nicht.
Am Schluss des Gesprächs kehrt Cantone an den Anfang zurück, nämlich zur Migration als angeblich grösstes Problem Italiens. Er rechne damit, dass schon bald, schon im Herbst, wieder andere Themen in den Vordergrund treten: Die Wahlversprechungen von Lega und Cinque Stelle müssten nun umgesetzt oder aber infolge Geldmangels auf die lange Bank geschoben werden.
Auf dem Spiel stünden das tiefere Rentenalter, Steuersenkungen, die versprochene höhere Sozialhilfe. «Die tatsächlichen, grossen Probleme Italiens kehren wahrscheinlich bald zurück», sagt Cantone.