Im Zentrum von Minsk bietet sich in diesen Tagen ein ungewohntes Bild für Belarus: Von mittags bis spät am Abend ziehen dutzende Gruppen, von meist vier bis fünf Personen, schwer bepackt mit Schlafsäcken und Einkaufstüten durch die Strassen. Die meisten von ihnen sind irakische Kurden, aber auch Menschen aus Syrien oder Afghanistan sind anzutreffen.
Hoffnung auf ein besseres Leben
Ein Einkaufszentrum nur unweit der Residenz des umstrittenen Präsidenten Lukaschenko wurde zu einem beliebten Treffpunkt. Wo im August vor einem Jahr noch tausende Menschen gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen demonstrierten, treffe ich im Eingangsbereich den 23-jährigen Ali und dessen Freunde. Ali hofft in Deutschland ein besseres Leben zu finden, Ibrahim möchte nach Schweden zu seinem Bruder.
Dreimal haben die jungen Männer zu diesem Zeitpunkt bereits vergeblich versucht über die Grenze in die EU zu kommen. «Ich werde es zwanzigmal versuchen, wenn es sein muss. Zurück in den Irak gehe ich nicht», erzählt mir Ali. Er zeigt mir Bilder von einem ihrer gescheiterten Versuche: «Als wir es zum dritten Mal versuchten, da waren wir schon 20 Kilometer zu Fuss innerhalb von Polen unterwegs. Zwei Tage waren wir ohne Essen und ohne Trinken, als uns der polnische Grenzschutz festsetzte und zurück an die Grenze zu Belarus brachte.» Berichte von Zurückweisungen auch nach Grenzübertritt sind zahlreich und betreffen sowohl Polen als auch Litauen. Beide Staaten würden damit gegen europäisches Recht verstossen.
Das Geschäft von Betrügern
Nach jedem gescheiterten Versuch kommen die Freunde zurück in die Hauptstadt Minsk, um zu Kräften zu kommen und sich neue warmen Sachen zu kaufen. Das Gehalt als Verkäufer im Irak reiche zum Leben nicht aus: «Ich habe im Irak zehn bis zwölf Stunden am Tag gearbeitet und dabei zwischen sechs und sieben Dollar verdient. Das Leben ist hart im Irak. Ohne Geld geht rein gar nichts. Du kannst nicht studieren ohne Geld.»
Er habe lange gespart und werde von Verwandten unterstützt, um die Reise zu bezahlen. Offiziell reisen die Migrantinnen und Migranten als Touristen über Istanbul, Dubai oder Beirut nach Minsk. Angelockt werden die Menschen von Schleppern mit der Lüge, dass aus Belarus eine Einreise in die EU problemlos möglich sei. Wie viele Menschen diesen falschen Versprechungen gefolgt sind, lässt sich nur ungefähr schätzen. Konservative Schätzungen gehen von bis zu 15‘000 Migrantinnen und Migranten aus, die sich zurzeit in Belarus aufhalten sollen.
Diese Zahl dürfte in den vergangenen Wochen weiter angestiegen sein. Denn die Zahl der Menschen, die täglich neu nach Minsk einreisen, ist um ein vielfaches grösser, als die Zahl jener, die es über die EU-Grenze schaffen. Mindestens acht Menschen sind beim Versuch, die Grenze zu überqueren, gestorben.
Einkünfte für die Staatskassen
Es ist auffällig, wie zurückhaltend sich die belarussischen Behörden bisher geben. Bei grösseren Menschenansammlungen reagiert die Polizei üblicherweise ebenso mit Festnahmen, wie auf das Mitführen von ungültigen Dokumenten. Den Behörden sollen 2000 Personen bekannt sein, deren Visum für Belarus bereits ausgelaufen ist. Dazu gehören auch Ali und seine Freunde.
Die belarussischen Behörden scheinen bisher ganz bewusst wegzusehen. Dahinter steht auch ein finanzielles Interesse. Am Geschäft der Schlepper verdient der belarussische Staat mit. Den meisten Migranten wird über Agenturen ein Reisepaket verkauft, das Geld in die Kassen der staatlichen Airline Belavia und Hotels unter Kontrolle der Präsidentenadministration spült. So sind auch Ali und seine Freunde mit Belavia aus Istanbul nach Minsk geflogen und haben die ersten Nächte in einem der staatlich kontrollierten Hotels verbracht. Seit ihr Visum ausgelaufen ist, schlafen sie entweder im Hostel oder auf der Strasse.
Eine Krise auf Befehl
Am Wochenende versuchen Ali und seine Freunde erneut über die Grenze zu kommen. Ali schickt mir eine beunruhigende Sprachnachricht: «Wir sind in einem Wagen der belarussischen Grenzwächter. Sie haben uns im Grenzgebiet festgesetzt und wir vermuten, dass sie uns an die Grenze zu Litauen bringen wollen.»
Wie Ali später erzählt, hätten die Grenzwächter sie in den Wagen gelockt mit dem Versprechen, ihnen eine leicht zu passierende Stelle an der polnisch-belarussischen Grenze zeigen zu wollen. Innerhalb weniger Stunden schickte Ali mir zwei Standorte von seinem Handy. Der zweite Standort ist bereits auf der anderen Seite der Grenze in Litauen. Dort werden sie kurz darauf von litauischen Grenzwächtern nach Belarus zurückgeschickt. Damit ist der vierte Versuch der Freunde gescheitert, doch sie wollen nicht aufgeben und es bereits in den kommenden Nächten erneut versuchen.
Der Standpunkt von Alexander Lukaschenko, es handle sich nicht um eine von Belarus künstlich geschaffene Migrationskrise, wäre damit klar widerlegt. Ohne seinen Befehl würde kein belarussischer Grenzwächter Migranten von einer Grenze zur anderen fahren.