Es ist ein einzigartiger Vorgang, der Mittwoch in Brüssel stattfindet. Die Kommissarin für Inneres der Europäischen Union Ylva Johansson zitiert die gesamte Spitze der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex per Videokonferenz zum Rapport. Es geht um die gehäuften Anschuldigungen und Beweise, dass Europäische Grenzschützer in Mission in der östlichen Ägäis gemeinsam mit der griechischen Küstenwache systematisch Migranten daran hindern, von der Türkei aus die griechischen Inseln zu erreichen, um dort Asyl zu beantragen.
Zahlreiche Videos sowohl von Migranten auf seeuntauglichen Schlauchbooten wie auch der türkischen Küstenwache sollen die gefährlichen und völkerrechtlich verbotenen sogenannten «Push-Backs» belegen.
Zweifelhafte türkische Rolle
Pikant dabei: ein Angeklagter wird dabei selbst zum Ankläger! Denn die Rolle der Türkei in diesem Kräfteziehen um Grenzkontrollen und Abschirmung angesichts der andauernden Migrationsbewegungen ist mehr als zweifelhaft. Noch im Frühjahr lockte Präsident Recep Tayyip Erdogan zehntausende von Syrer und Afghanen an die türkisch-griechische Landesgrenze bei Edirne mit dem Versprechen, die Grenze Richtung Europa sei offen.
Jede Nacht versuchen Flüchtlinge und Migranten, in der Türkei ohne Lebensunterhalt und Chance auf Asyl, mit Schlauchbooten die gefährliche Überfahrt auf die griechischen Inseln. Starke Strömung und der Schiffsverkehr in der Dunkelheit können tödlich sein.
SRF durfte eine Nacht ein türkisches Patrouillenboot in der Meerenge zwischen Marmaris und der griechischen Insel Rhodos begleiten. Für die türkischen Grenzschützer ist es nicht einfach, 1.600 Kilometer Mittelmeerküste lückenlos zu kontrollieren – trotz aufwendiger Technik. Doch schon nach einer Stunde Fahrt spürten die Nachtsichtkameras eine Gruppe von 18 Syrern auf, die auf der felsigen Küste Schutz suchte.
Die Männer, Frauen und Kinder im Alter bis zu drei Jahren waren hier mit Rettungsflossen angelandet. Nach eigenen Angaben wurden sie von der griechischen Küstenwache am Vortag in ihrem seeuntauglichen Schlauchboot mit defektem Aussenborder aufgefasst, aller persönlicher Habseligkeiten beraubt und in zwei Rettungsflossen ausgesetzt. Die Strömung trieb sie dann wieder Richtung Türkei.
An Bord der Patrouillenboots wird bestätigt, dass in diesem Jahr bis Ende Oktober über 550 Rettungseinsätze gefahren wurden. In rund 250 Fällen sollen die Migranten zurückgewiesen worden sein – das entspricht einer Push-Back-Quote von über 45 Prozent.
Genau diese gefährliche Rückweisung auf offener See wird jetzt von der EU-Kommission in Brüssel untersucht. Wenn schon die Praktiken von Schleppern und Mitwissern auf türkischer Seite nicht transparent gemacht werden können, so will die Europäische Kommissarin für Inneres wenigstens dafür sorgen, dass der Schutz der EU-Aussengrenzen nach internationalem Recht erfolgt.