Vor dem Nato-Gipfel steht die mächtigste Militärallianz vor Problemen: Russland, Konflikte am Südrand, Cyberangriffe, Terrorismus. Doch ganz scheint es, als gehe zurzeit die Hauptgefahr nicht von aussen aus, sondern von innen. Von Donald Trump.
Das sind die grössten Herausforderungen des Bündnisses – und die Chancen, sie zu meistern:
1. Russland, der neue alte Widersacher
Seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und der russischen Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine ist der alte Ost-West-Konflikt zurück. Manche fühlen sich gar an den Kalten Krieg erinnert. Moskau hat seine Streitkräfte kräftig modernisiert. Sie sind heute erheblich schlagkräftiger als noch vor wenigen Jahren.
Etliche osteuropäische Länder fühlen sich von Russland bedroht, in allererster Linie die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Inzwischen hat aber die Nato reagiert und Truppenkontingente im Baltikum und in Polen stationiert – wenn auch nur bescheidene, jeweils tausend Mann pro Land. Auch die Raketenabwehr in Osteuropa wird ausgebaut. All das dürfte zwar nicht ausreichen, um einen Vormarsch Russlands abzuwehren, sollte ein solcher tatsächlich geplant sein. Aber es dürfte den Kreml davon abhalten, überhaupt an eine militärische Offensive zu denken.
2. Die Gefahr im Süden
An der Nato-Ostgrenze ist die Lage zwar neuerdings wieder angespannt, aber doch einigermassen stabil. Russland ist vom Partner wieder zum Widersacher geworden, doch die Führung ist einigermassen berechenbar. Unberechenbar ist hingegen die Situation am Südrand des Nato-Raumes, im Nahen Osten und in Nordafrika. Regime könnten dort kollabieren. In manchen Staaten haben «Kriegsherren» oder Terrororganisationen viel Macht erobert. Dazu kommt das Problem der Zuwanderungsströme, durch die sich etliche Nato-Mitgliedsländer ebenfalls bedroht fühlen.
Während die Nato eine klare Oststrategie hat, besitzt sie bisher keine überzeugende Südstrategie. Vor allem die südeuropäischen Nato-Mitglieder beklagen sich darüber.
3. Flexibilität
Die Nato ist zwar mit Abstand das mächtigste Militärbündnis der Welt. Doch die zahlenmässige und technologische Überlegenheit macht sie in Konflikten noch längst nicht zum sicheren Sieger. Denn die Nato mit ihren 29 Mitgliedern ist kompliziert. Die Entscheidungsprozesse sind langwierig.
Dass die Nato ein Bündnis demokratischer Staaten ist, in denen vielfach auch das Parlament bei militärischen Entscheidungen mitreden will und die öffentliche Meinung eine grosse Rolle spielt, macht die Sache nicht einfacher. Müsste die Allianz ganz rasch grosse Truppenteile in den Osten verschieben, hätte sie grösste Mühe. Bürokratie, mangelnde Infrastruktur, reduzierte Kapazitäten seit dem Ende des Kalten Krieges erschweren das Ganze zusätzlich.
4. Der «ewige» Krieg in Afghanistan
Dort findet immer noch die grösste Operation der Nato statt. Seit mehr als einem Jahrzehnt nicht wirklich erfolgreich. Wobei man jedoch nicht weiss, wie die Lage in dem Land wäre, hätte sich die Nato dort nicht engagiert.
In den letzten Jahren wurde die Nato-Präsenz in Afghanistan deutlich heruntergefahren. Die Allianz ist nur noch zur Unterstützung, Beratung und Ausbildung der afghanischen Streitkräfte präsent. Doch der in manchen Ländern geforderte totale Rückzug ist noch nicht erfolgt. Auch US-Präsident Donald Trump hat hier seinen Wahlkampfversprechen keine Taten folgen lassen.
5. Das liebe Geld
Die meisten europäischen Länder haben nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Friedensdividende bezogen. Das heisst, sie haben viele Jahre lang ihre Verteidigungsetats heruntergefahren und ihre Streitkräfte verkleinert. Schon die US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama forderten von den europäischen Partnern, aufzuhören mit der Trittbrettfahrerei und sich endlich stärker an den Kosten für ihre eigene Sicherheit zu beteiligen. Und nicht hauptsächlich die Amerikaner zahlen zu lassen. Das Echo war beschränkt.
Das änderte sich freilich zumindest teilweise, seitdem Russland wieder stärker als Bedrohung wahrgenommen wird. Donald Trump fordert jetzt Mehrausgaben in Europa weit grobschlächtiger ein als seine Vorgänger. Und droht, anders als diese, auch damit, die USA könnten sich ansonsten von der Nato verabschieden. Auch der Abzug der verbleibenden rund 35'000 US-Soldaten aus Deutschland wird zumindest geprüft – und sei es auch nur als Drohgebärde, um Druck zu erzeugen.
6. Der starke Mann am Bosporus
Die Türkei ist ein Eckpfeiler der Nato. Sie ist sozusagen der Puffer zwischen Europa und dem unruhigen Nahen Osten. Ihre Armee ist die zweitgrösste der Allianz – wenn auch nicht die zweitstärkste.
Doch seit Recep Tayyip Erdogan das Land wie ein Sultan, also als Autokrat regiert, passt die Türkei nicht mehr wirklich in das Bündnis. Denn dieses versteht sich nicht nur als Militärallianz, sondern auch als Wertegemeinschaft demokratischer Länder. Für Unmut sorgt auch, dass Erdogan auf Kuschelkurs zu Putin geht und sogar russisches Militärgerät kaufen will, dass mit Nato-Waffensystemen gar nicht kompatibel ist.
7. Ein Mann namens Trump
Gut ein Jahr lang galt aussenpolitisch: US-Präsident Donald Trump twittert zwar wild und schafft Verunsicherung, aber wenn es um Aussen- und Sicherheitspolitik geht, halten immer noch besonnene Köpfe in der Regierung, vor allem im Pentagon, die Fäden in der Hand. Doch inzwischen sind viele von ihnen aus Schlüsselstellen entfernt worden oder haben selber den Bettel hingeschmissen. Nur Verteidigungsminister James Mattis hält vorerst noch die Stellung.
Ergebnis: Trump lässt seinen Twitter-Ausbrüchen und Wahlkampfversprechen Taten folgen: Dem Atomabkommen mit dem Iran kehrt er den Rücken, den jüngsten G7-Gipfel in Kanada hat er quasi pulverisiert. Ob sich der Klub der mächtigen, westlichen Industriestaaten überhaupt davon erholen wird, ist fraglich. Trump hält wenig von multilateraler Zusammenarbeit. Die wichtigsten Partner und deren demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs brüskiert er ein ums andere Mal. Auch die Nato, obschon das Fundament der amerikanischen Weltgeltung, hat er schon als überflüssig erklärt.
Man hat den Eindruck, als verstehe er sich mit Potentaten besser als mit Demokraten. Der saudische Kronprinz, der Autokrat Wladimir Putin im Kreml, selbst der nordkoreanische Diktator scheinen ihm irgendwie näher zu stehen. Nie war die Unruhe, ja sogar die Angst angesichts des Auftritts eines US-Präsidenten auf einem Nato-Gipfel so gross wie diesmal.
Der französische Strategieexperte Dominique Moisi spitzte das Dilemma so zu: «In einer Herde kann es immer mal passieren, dass sich ein Schaf vom Trupp entfernt. Gross ist aber das Problem, wenn der Hirte plötzlich das Weite sucht.» Ausgerechnet auf die unbestrittene Führungsmacht der Nato, auf die USA, ist also auf einmal bloss noch begrenzt Verlass.