Für den Ausdruck «im Chaos versinken» gibt es sprachlich keine Steigerungsformen. Diese wären aber nötig, um den Zustand und die Entwicklung Haitis in den letzten Monaten und Jahren zu beschreiben.
Da ist zum einen die Sicherheitslage. Bewaffnete Banden greifen seit Wochen Polizeistationen an und terrorisieren die Bevölkerung. Menschen werden entführt und ermordet, Häuser und ganze Quartiere niedergebrannt.
Pandemie verschärft Probleme
Laut dem jüngsten UNO-Bericht sind über eine Viertelmillion Menschen von dieser Gewalt betroffen – fast 6000 Personen müssen derzeit in Notunterkünften humanitär versorgt werden.
Aber auch der Rest der Bevölkerung lebt unter äusserst prekären Bedingungen: Mehr als 40 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner haben nicht genug zu essen, fast die Hälfte von ihnen sind Kinder. Grundnahrungsmittel sind knapp, und seit der Pandemie sind die Preise in die Höhe geschnellt.
Der karibische Inselstaat hat kein funktionierendes Gesundheitssystem, viele Haushalte sind ohne fliessendes Wasser, und damit ist die Bevölkerung der Corona-Pandemie weitgehend schutzlos ausgeliefert.
Schwerer Verdacht
Hinzu kommt die politische Lage auf Haiti: Präsident Moïse war seit Langem zutiefst unpopulär. Vor drei Jahren tauchte sein Name in Untersuchungsberichten zum sogenannten Petrocaribe-Skandal auf.
Bei diesem wurden zwei Milliarden Franken an ausländischen Hilfsgeldern veruntreut. Laut verschiedenen Untersuchungsberichten soll ein Teil dieser Gelder auch in die Taschen von Moïse geflossen sein. Die Protestwelle, die diese Berichte auslöste, ist seither nie richtig abgeflacht.
Keine Aussicht auf baldigen Wandel
Hinzu kommt eine Verfassungskrise: Seit über einem Jahr hat Haiti kein rechtmässig gewähltes Parlament mehr. Präsident Moïse regierte per Dekret und zögerte Neuwahlen immer wieder hinaus. Zudem unternahm er Versuche, über eine Verfassungsänderung die Machtfülle des Präsidentenamtes auszubauen.
Nun ist Jovenel Moïse ermordet worden. Wer dahinter steckt, in derzeit noch unklar. Unklar ist auch, wie es weitergehen soll. Denn weder im Regierungslager noch in der Opposition sind integre Persönlichkeiten auszumachen, die über den nötigen Rückhalt verfügen, um das Land zu einen und die übergrossen Probleme anzupacken. Deshalb ist zu befürchten, dass auch künftige Berichte von der Insel die Überschrift haben werden: Haiti versinkt noch weiter im Chaos.