«Welcome to Brooklyn» steht auf dem tristen Schild bei der Autobahnausfahrt, das auf einer sonnenverbrannten Rasenfläche steht. In Brooklyn, Baltimore leben 40 Prozent der Familien in Armut. Vernagelte Türen, verwahrloste Gärten, Glasscherben und tote Ratten auf dem Trottoir.
Es ist kein Ort, wo man sich zu Fuss auf die Strasse wagt.
Doch genau das tut Reverend Scott Slater. Der anglikanische Pfarrer führt regelmässig Gruppen durch das Quartier, in Begleitung eines Polizeiwagens.
Leben wirklich Menschen in diesen Häusern, werde er oft gefragt. Und warum ziehen sie nicht weg? «Das ermöglicht mir, über die Rassendiskriminierung zu sprechen, über den Mangel an billigem Wohnraum oder an frischen Lebensmitteln, über die vielen Schichten eklatanter Ungleichheit», sagt Reverend Slater.
Vor einem Reihenhaus mit verwucherten Vorgarten stoppt der Pfarrer, und die Gruppe beginnt für das Gewaltopfer Shawn Pressley zu beten.
Der Afroamerikaner wurde am 21. Dezember letzten Jahres an genau dieser Stelle erschossen. Dreizehnmal vollzieht die Gruppe das Ritual für Gewaltopfer, alles Afroamerikaner im Alter von 16 bis 33 Jahren. Der etwas makabre Rundgang ist Teil des «Ceasefire»-Wochenendes, einer jährlichen Veranstaltung mit Partys und Aktionen gegen Gewalt.
Die afroamerikanische Aktivistin Erricka Bridgeford ist die Mit-Gründerin von «Baltimore Ceasefire 365». Die Idee sei es, einmal im Jahr die Waffen ruhen zu lassen und stattdessen das Leben zu feiern, sagt sie, huscht davon und verteilt Flyer an junge Männer mit gezeichneten Gesichtern, die auf der Veranda sitzen. Mit ihrem Tüllrock und violetten Flügelchen am Rücken versprüht sie eine paradox wirkende Fröhlichkeit.
In Baltimore gibt es seit Jahren Anti-Gewaltprogramme verschiedener Gruppen. Gerade hat die Stadtregierung einen neuen 5-Jahres Plan zur Gewalt-Minderung verabschiedet. Das Ziel: Die Rekord-hohe Mordrate um 15 Prozent zu senken, mittels Polizeireform, Gewaltprävention und Bevölkerungs-Engagement.
Als ich Erricka Bridgeford frage, warum denn trotz allen Bemühungen in Baltimore jährlich rund 300 Menschen in Schiessereien sterben, reagiert sie brüskiert. Das zeige, wie die Medien die falschen Fragen stellen würden. «Wenn man Gewalt als ein Problem der öffentlichen Gesundheit ansähe, als eine Folge der Rassen-Unterdrückung, dann würde man begreifen, weshalb man nicht sofort ein Resultat sehen KANN», sagt Erricka.
«Es ist wichtig den Menschen Hoffnung zu machen und nicht ein Narrativ des Scheiterns zu verbreiten». Seit der bekannten Fernsehserie «The Wire» wird Baltimore das Image einer Mord- und Drogen-Metropole nicht mehr los.
Ein Anwohner im Rollstuhl findet Interesse an der Besuchergruppe. «Die Waffengewalt ist schlimm in Baltimore», sagt er, es müsse aufhören. Er ertrage es nicht mehr, immer diese Schiessereien zu hören und zu wissen, es würden Jugendliche erschossen. «Und der Gouverneur und der Bürgermeister unternehmen rein gar nichts. Wir brauchen mehr Polizei auf der Strasse, nicht weniger.»
Eine junge afroamerikanische Frau hat sich bisher diskret im Hintergrund gehalten. «Young Elder» ist eine 19-jährige Rapperin, die weiss, was es heisst, in einem Armenviertel in Baltimore aufzuwachsen. Die Gewalt habe sie beeinträchtigt, sagt sie und berichtet, wie ihr bester Freund in einem Kreuzfeuer umkam. Er sei ein anständiger Typ gewesen, habe keine Drogen genommen.
Warum greifen denn so viele Jugendliche zur Waffe? «Weil sie traumatisiert sind, auf verschiedene Weisen. Wegen der Bedrohung durch Waffengewalt, wegen der rassebedingten Ungleichheit und wegen der Armut. Sie macht die Menschen gewalttätig. Es ist ein Teufelskreis, sagt Young Elder. Sie mobilisiert an Schulen in Baltimore gegen die Gewalt.
Vor einer kleinen Hütte wehen goldene Ballone im Wind, daneben stehen leere Wein- und Vodkaflaschen. «Rest In Peace» hat jemand auf die mit Brettern verrammelte Tür gesprayt. Ruhe in Frieden. Hier starb Keyon Rogers, am 10. April. Er wurde 23 Jahre alt.