Protestsongs prangern «Klassiker» an, wie Krieg und Korruption. Es tauchen aber auch neue Themen auf – zum Beispiel die Verkehrssicherheit oder die Fortführung des kulturellen Lebens.
Protestsongs an sich sind kein neues Phänomen. Doch viele der aktuellen Protestsongs unterscheiden sich von früheren Werken. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne Zutun von Musik-Labels und bekannter Künstlerinnen und Künstler geschaffen werden und ausgelöst durch ein Ereignis in der Öffentlichkeit auftauchen. Oft stecken bislang unbekannte Musikschaffende dahinter. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sozialen Medien, die zu einer raschen und wirkungsvollen Verbreitung der Songs beitragen.
Kuba: «Vaterland und Leben» statt «Vaterland oder Tod»
Allein der Titel ist eine Provokation erster Güte für das kommunistische Regime in Kuba: Denn «Patria y vida» («Vaterland und Leben») spielt auf den alten revolutionären Kampfslogan «Vaterland oder Tod» an. Die Hauptbotschaft des Songs, den einige bekannte kubanische Sänger und Rapper herausgegeben haben, lautet: Wir haben genug von den alten Kampfparolen; 60 Jahre nach der Revolution wollen wir keine Ideologie mehr; nicht Vaterland oder Tod, sondern Vaterland und Leben!
Keine Lügen mehr, mein Volk bittet um Freiheit, lassen Sie uns nicht länger ‹Heimat und Tod›, sondern ‹Heimat und Leben› rufen.
Kuba steckt derzeit in der schlimmsten wirtschaftlichen Krise seit über 30 Jahren. Selbst Grundnahrungsmittel sind knapp. Vor den Läden bilden sich immer wieder lange Schlangen und der Unmut wächst. Das kommunistische Regime hat auch deshalb harsch reagiert auf «Patria y Vida». Die Musiker wurden in den staatlichen Medien als Vaterlands-Verräter tituliert. Und die Regierung hat regimetreue Musiker aufgefordert, Gegen-Songs zu komponieren. Genützt hat diese musikalische Gegenoffensive wenig. Die Popularität von «Patria y vida» zeigt: Menschen kann man einsperren, nicht aber Ideen oder Lieder.
Kolumbien: Indigene liefern den Protest-Soundtrack
Junge Menschen in ganz Kolumbien protestieren gegen die Ungleichheit im Land und gegen die Polizeibrutalität, die sie auch selber zu spüren bekommen. Es gibt über 170 Verfahren gegen Polizisten wegen Gewalt und Mord an Demonstrierenden. Es ist allerdings die indigene Bewegung Kolumbiens, welche den Protesten eine Melodie gibt: Überall wo die Proteste in Kolumbien Halt machen, erklingt der Marsch «Guardia Fuerza». «Die Hymne lädt uns ein, das Leben zu verteidigen, Mutter Erde zu verteidigen, aber auch auf uns selbst aufzupassen», sagt der Autor des Liedes, der indigene Aktivist Luis Manuel Sánchez.
Die Hymne lädt uns ein, das Leben zu verteidigen. Wächter ist derjenige, der sein Leben beschützt.
Inzwischen haben sich bekannte kolumbianische Musikerinnen und Musiker zusammengefunden, um das Lied neu aufzunehmen. Mit dabei sind Rapper und Rock-Musiker. Das Video ist auf YouTube ein Renner, am Radio ein Ohrwurm. Sogar das bekannte Philharmonische Orchester von Bogotá interpretiert den Titel – ein Ritterschlag. Offen ist, ob das Lied dazu beiträgt, politische Änderungen in Kolumbien zu erzielen.
Libanon und Irak: Mit «Bella Ciao» gegen die Korruption
«Bella ciao» ist ein altes Partisanenlied aus dem 19. Jahrhundert. Doch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es auch als Lied der Unterdrückten bekannt – und kommt immer wieder bei Protesten gegen die Mächtigen zum Einsatz. So im Jahr 2019 auch in Libanon und im Irak, und zwar auf Arabisch. Dass dem so ist, hat auch mit der Netflix-Serie «Haus des Geldes» zu tun. Dort feiert eine Räuberbande, die in die Nationalbank eingedrungen ist, ihren Coup, indem sie «Bella Ciao» singt.
Die Bevölkerung im Irak und in Libanon hat genug von korrupten Regierungen, die ihr Volk ausrauben. Die Bevölkerung will ihr Geld und ihre Zukunft zurück.
Das trifft im Nahen Osten einen besonderen Nerv: hier hat die Bevölkerung im Irak und in Libanon genug von korrupten Regierungen, die ihr Volk ausrauben. Die Bevölkerung will ihr Geld – und ihre Zukunft zurück. Den grossen Raub in der Netflix-Serie sieht sie als Rückeroberung ihrer maroden Institutionen – als revolutionären Akt. Seither ist «Bella Ciao» bei Protestaktionen gegen die Regierungen in diesen Ländern nicht mehr wegzudenken.
Bangladesch: Aufstand für mehr Verkehrssicherheit
Es war kein Protest, der international gross für Aufsehen sorgte, aber in Bangladesch hat er etwas bewirkt. Im Sommer 2018 haben Zehntausende für mehr Sicherheit auf den Strassen protestiert. Dies, nachdem zwei Studentinnen von einem Schulbus in der Hauptstadt Dhaka überfahren worden waren. Der Fahrer hatte keinen Fahrausweis. Mit dabei war das Lied «Left Right» von Sina Hasan.
Ich wehre mich gegen das System, welches einerseits bei schweren Verkehrsunfällen ein Auge zudrückt und anderseits Kritiker hart bestraft.
Jeden Morgen auf dem Pausenplatz müssen die Schülerinnen und Schüler zur Nationalhymne marschieren und schwören, dem Staat etwas Gutes zu tun. Doch, und das fragt das Lied, was tut der Staat für sie? Diese Worte haben die Protestwelle ausgelöst. Die Regierung reagierte zuerst mit Gewalt und Repression, doch sie merkte bald, dass sie damit nicht durchkommt. Sie versprach eine Reihe von Gesetzesänderungen. Die Zahl an Verkehrstoten ist seither gesunken.
Das Video zum Protestsong
Frankreich: Protestlied gegen die Corona-Massnahmen
Die Corona-Pandemie hat Kulturveranstaltungen lange Zeit verunmöglicht. Viele Kulturschaffende standen und vor einer unsicheren Zukunft. Auch in Frankreich, wo die strengen Corona-Massnahmen noch einschränkender waren und noch länger dauerten als in der Schweiz. Der französische Musiker Kaddour Hadadi, genannt HK, hat damit nicht nur gehadert. Er hat seinen Frust in ein Chanson gepackt.
Ich verharmlose das Coronavirus überhaupt nicht. Aber ich stehe den Massnahmen der Regierung kritisch gegenüber.
«Danser encore» war für die einen eine Hymne an die Kultur, für die anderen ein Protestlied gegen die Corona-Massnahmen. Das Chanson ging viral, wurde millionenfach angeklickt – und gesungen. Es gab viel Resonanz, auch aus der Kulturszene. Und es gab Kritik. Weil sich bei den Auftritten von HK und seiner Musikerinnen draussen auf den Plätzen Frankreichs nicht alle an die Maskenpflicht hielten. Und auch nicht an die Abstandsregeln.
Simbabwe: Missstände mit Musik statt Text aufdecken
In Afrika wird Musik regelmässig gebraucht, um die Mächtigen zu kritisieren, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen oder regionale Sentiments zu untermalen. So auch in Simbabwe. Dort hat der bekannte Investigativ-Journalist Hopewell Chin'ono Anfang Jahr kurzerhand die Feder gegen das Mikrofon eingetauscht und prompt einen Hit gelandet. Der sehr improvisiert klingende Anti-Korruptions-Song «Dem Loot» ging viral in den sozialen Medien. Rund eine Minute Freestyle über die simbabwische Elite, die sich schamlos bereichert, während die Bevölkerung leidet.
Sie bedienen sich an der Staatskasse, während es an sauberem Trinkwasser und Medikamenten im Land mangelt.
Es ist Dancehall Musik, um die jungen Menschen im Land zu erreichen, die lieber Musik hören als Enthüllungsartikel lesen. Es hat funktioniert. Fast 200’000 Menschen sahen das Video auf Twitter, es hagelte Tausende Likes und innert Kürze kursierten diverse Varianten des Lieds auf den sozialen Medien. «Dem Loot... Sie plündern und rauben, die Politiker, die sich bedienen an der Staatskasse, während es an sauberem Trinkwasser, Jobs, Medikamenten im Land mangelt.»
Polen: Ein Punkrocker mischt sich ein
Polen ist ein politisches gespaltenes Land. Die Anhängerinnen und Anhänger der Regierungspartei und deren Gegnerinnen und Gegner stehen sich völlig unversöhnlich gegenüber. Diese Unversöhnlichkeit zeigt sich auch in der Musik – etwa bei jener von Punkrocker Krzystof Grabowski, Künstlername Grabaz. In seinen Songs kritisiert er die aktuelle Regierung. Sie habe totalitäre Züge, und sie verbreite Hass. Zwar habe es den Hass auf die Fremden und Andersartigen in Polen schon immer gegeben, sagt der Historiker.
Wie bei einem Wald ist es leicht ein Feuer zu entfachen. Aber es dauert Jahrzehnte bis die Bäume nachwachsen.
Aber Jaroslaw Kaczynski, der Chef der polnischen Regierungspartei, wisse genau, wie man dieses Unterholz der Vorurteile in Brand setze. Wie bei einem Wald ist es leicht ein Feuer zu entfachen. Doch es daure Jahrzehnte, bis die Bäume nachwachsen. Er glaube deshalb nicht, dass die polnische Gesellschaft ihre Spaltung je überwinden werde. Dass sich der Punkrocker in die Politik einmischt, gefällt nicht allen in Polen – auch nicht allen Fans. Aber Grabaz kann nicht anders. Er wird auch weiterhin über seine Hassliebe zu Polen singen.
Ungarn: Die Politik kritisieren – aber ohne Subventionen
Musik in Ungarn hat es schwer, wenn sie politisch sein will. Eigentlich gäbe es in dem Land, das heute weder eine Demokratie im westlichen Sinn noch eine Diktatur ist, viel Stoff für politische Lieder. Doch wer in Ungarn Musik macht und Musik produziert, der erzählt, dass ein subtiles System der (Selbst-)Zensur entstanden ist – anders als zu kommunistischen Zeiten, aber genauso effizient. Schwer hat es vor allem jene Musik, die sich nicht allein kommerziell rentiert.
Die Subventionen werden an Bands gehen, die Bedeutsames zu sagen haben.
Staatliche Unterstützung bekommen nur jene Künstlerinnen und Künstler, die «Bedeutsames» zu sagen haben, wie es ein Sprecher der Regierung von Viktor Orban formuliert. «Bedeutsam» sind zum Beispiel Variationen über die Nationalhymne. Orbans Leute hätten es zudem nicht nötig, jemandem die Bühne zu verbieten, sagt Musikproduzent Tamas Rupaszov. Die Parteisoldaten, Konzertveranstalter in Jugendzentren, in Musiksälen, überall, wo staatliches Geld drin sei, zensierten sich von sich aus – in der Hoffnung, den Mächtigen zu gefallen.