Seit mehr als zwei Jahren finden in den Regionen Oromia und Amhara von Zeit zu Zeit regierungskritische Demonstrationen statt. Dem äthiopischen Premierminister Hailemariam Desalegn wird vorgeworfen, er habe keine Lösung für dieses Problem gefunden. Auf sein Geheiss wurden rund 1000 Menschen aus der Haft entlassen. Am Mittwoch kündigte Premierminister Desalegn nun am Fernsehen seinen Rücktritt an. Warum er zurücktritt, sei nicht klar, sagt der ehemalige Afrika-Korrespondent Patrik Wülser.
SRF News: Wie begründet Hailemariam Desalegn seinen überraschenden Rücktritt?
Patrik Wülser: Es war eine pathetische Ansprache im äthiopischen Fernsehen. Er sagte, sein Rücktritt sei ein notwendiger Schritt für weitere Reformen. Er leiste damit einen Beitrag für nachhaltigen Frieden und zur Demokratieförderung. Das war seine Begründung.
Welche Reaktionen gibts in den Medien auf diesen Rücktritt?
Bei den ethnischen Minderheiten und der Opposition herrscht Euphorie. Sie interpretieren den Rücktritt als ihren Erfolg. Aber man muss doch etwas genauer hinschauen. Es ist unüblich, dass in Afrika ein Staatschef so pathetisch zugunsten des Landes, des Friedens und der Demokratieförderung zurücktritt.
In Äthiopien gibt es keine freien Medien und auch keine Kommentarspalten. Aber diplomatische Kreise spekulieren, dass er vielleicht auf Druck der eigenen Partei gehen musste. Desalegn war ein Reformer. Vielleicht gingen die Reformen der Regierungspartei zu schnell. Ihm wurde auch vorgeworfen, er habe bei den Protesten zu wenig hart durchgegriffen.
Vor zwei Jahren wurden bei Protesten noch 300 Menschen erschossen.
Dass er viele Gefangene frei liess, wurde auf der Weltbühne bejubelt, aber das wird ihm vielleicht von der Partei auch vorgeworfen. Sein Rücktritt könnte ein Zeichen dafür sein, dass es innerhalb der Partei eine Spaltung zwischen Reformern und Hardlinern gibt. Das sind aber alles Spekulationen.
Der Premierminister hat politische Gefangene freigelassen und jetzt tritt er zurück. Ist das ein Zeichen dafür, dass in Äthiopien tatsächlich politische Veränderungen im Gang sind?
Es sind politische Veränderungen im Gang. Vor zwei Jahren wurden bei Protesten noch 300 Menschen erschossen. Es waren Kinder, Frauen und Demonstrierende. Deshalb überraschte schon die Freilassung der politischen Gefangenen.
Man hat das etwas argwöhnisch beobachtet. Oberflächlich betrachtet würde der Rücktritt in dieses Schema passen, aber man muss skeptisch sein. Äthiopien ist eine Entwicklungsdiktatur, ein autoritärer Staat. Es gilt oft auch als das China von Afrika und wird mit Ruanda verglichen. Es wird sehr hart regiert, freien Journalismus gibt es nicht. Oppositionelle können ums Leben kommen oder landen im Gefängnis.
Äthiopien ist das afrikanische Land mit der zweitgrössten Bevölkerung. Die Partei von Desalegn regiert das Land sehr autoritär. Oppositionelle haben kaum etwas zu sagen und doch gibt es so gut wie keine internationalen Proteste gegen das äthiopische Regime. Weshalb nicht?
Äthiopien ist die wichtigste Volkswirtschaft in Ostafrika. Es hat viele Erfolge vorzuweisen. In Addis Abeba trifft man auf die einzige Tramlinie in ganz Afrika. Eben wurde die Eisenbahnlinie nach Dschibuti eröffnet. Auch die letzte Dürre hat Äthiopien sehr gut, vorbildlich gemeistert. Es ist umgeben von Ländern, die im Krieg sind, z. B. Somalia und Südsudan. Der Westen ist daran interessiert, dass dieser Pfeiler erhalten bleibt. Das Land wird regelmässig gelobt, auch unsere Justizministerin Sommaruga war vor zwei Jahren dort und hat im Parlament eine Rede gehalten, und das Land für seine Demokratie gelobt. Kurz gesagt: Die Welt ist dankbar, dass Äthiopien in Ostafrika ein stabiler Pfeiler ist, und deshalb hält man sich aus diplomatischen Überlegungen mit allzu grosser Kritik zurück.
Wenn bekannt ist, wer neuer Premierminister wird, wird man auch den Rücktritt besser interpretieren können.
Desalegn hat ja seinen Rücktritt erst angekündigt, er ist noch im Amt. Wie geht es weiter?
Er hat klar gesagt, dass er kommissarisch im Amt bleibt, bis ein Nachfolger bestimmt ist. Das Parlament wird in den nächsten Tagen zusammenkommen und einen neuen Premierminister wählen.
Wer das ist, ist zur Stunde völlig offen. Wenn dieser Name mal bekannt ist, wird man auch den Rücktritt besser interpretieren können, und was allenfalls damit bezweckt wird.
Das Gespräch führte Claudia Weber.