Boris Becker, Tennis-Legende und verurteilter Steuerhinterzieher, kommt aus dem Gefängnis und klagt über seine Zeit in Haft in England. Tatsächlich sind die Anstalten so voll wie kaum irgendwo in Europa und gelten als besonders gefährlich und heruntergewirtschaftet. Rechtsanwalt Jan-Carl Janssen über die Gründe für die Missstände.
SRF News: Was ist der Grund für die Überbelegung der britischen Gefängnisse?
Jan-Carl Janssen: In den 1980er-Jahren gab es kriminalpolitische Reformen der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher. Sie hatte damals eine Nulltoleranz-Politik angekündigt. Es gab Parolen wie «three strikes and you're out». Bei dreimaligen, auch geringfügigen Regelverstössen sollte eine lange Haftstrafe folgen. Man wollte streng sein.
In England werden also nicht etwa mehr Straftaten begangen, sondern man sperrt die Menschen öfter und länger ein?
In der Tat. Die durchschnittliche Dauer einer verhängten Freiheitsstrafe in England und Wales beträgt ungefähr 16 Monate. Besonders in England und Wales gibt es zudem eine hohe Dichte an Freiheitsstrafen von unbestimmter Dauer. Wenn man nun die Anzahl von Gefangenen anschaut, die lebenslange Freiheitsstrafen in Grossbritannien verbüssen, ist sie doppelt so hoch wie die Anzahl von Gefangenen mit lebenslangen Freiheitsstrafen in Deutschland, Italien und Frankreich zusammen.
Seit den Thatcher-Jahren ging die Kriminalität aber zurück. Trotzdem sind die Gefängnisse überfüllt. Wie ist das zu erklären?
Derzeit sind in England und Wales circa 82'000 Personen in Gefangenschaft. Das entspricht einer Gefangenrate von 137 pro 100'000 der nationalen Bevölkerung. Zum Vergleich: Die Gefangenenrate in der Schweiz ist bei 72 pro 100'000, also etwa die Hälfte. Der Zustand ist schwer erklärbar. Die polizeilich registrierte Kriminalität geht zurück. Gleichzeitig steigt die Gefangenenrate an. Das lässt sich nur mit einer äusserst punitiven Kriminalpolitik und einem Fokus auf lange und harte Strafen erklären – auch wenn sie tatsächlich leider nichts bringen.
Grundsätzlich ist die Entscheidung, Haftanstalten privaten Anbietern zu übertragen, unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten fragwürdig.
Viele Gefängnisse in England sind privatisiert, also nicht in der Hand des Staates. Aber sind private Haftanstalten per se schlechter als staatliche?
Eindeutig lässt sich das nicht sagen. 1991 wurde die Möglichkeit geschaffen, den Bereich des Strafvollzugs für private Anbieter zu öffnen. Mit Blick auf die Frage, wo es besser oder effizienter läuft, lässt sich feststellen: Gewaltprobleme bestehen eher in privaten Anstalten, weil es schlichtweg weniger Personal gibt. In der Tendenz haben private Anbieter auch ein Interesse, dass möglichst viele Personen inhaftiert sind. Denn dann läuft das System aus ihrer Sicht effizienter.
Andererseits ist das Personal, insbesondere in privaten Anstalten, sehr schlecht ausgebildet. Teilweise erhalten sie nur ein paar Wochen Training. Auch die Fluktuation beim Personal ist gross. Damit ist es nicht möglich, dass Gefangene eine persönliche Beziehung zum Personal entwickeln können. Das wäre aber wichtig für das Vollzugsklima.
Grundsätzlich ist die Entscheidung, Haftanstalten privaten Anbietern zu übertragen, unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten fragwürdig. Die Strafrechtspflege zählt zu den Kernkompetenzen eines Staates, die man nicht Privaten mit Gewinnerzielungsabsicht übertragen sollte.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.
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