Es war eine kurze Nacht für Robert Göbel. Der Chefredakteur des «Hanauer Anzeigers» war spätabends noch einer Meldung in den sozialen Medien nachgegangen. Ein paar hundert Nazis lieferten sich Scharmützel mit Linken und der Polizei, hiess es. Die News war fake.
Tag 2 nach dem Mordanschlag eines wohl kranken Rassisten, der Hanau verändert hat: Göbel plant mit seinem Team die nächste Ausgabe. Die Ermordeten, deren Angehörige und die Überlebenden sollen im Zentrum stehen.
Ein Redakteur schlägt vor, einen Überlebenden im Spital zu besuchen. Dieser habe am TV seine Erlebnisse geschildert. «Da kommen einem fast die Tränen, wenn man hört, wie der das miterlebt hat. Unter ihm lag einer mit einem Loch im Hals, er hat das noch zugehalten. Aber der ist ihm weggestorben.»
Die Emotionen in der Stadt seien praktisch greifbar, berichtet eine Journalistin. Sie macht sich Sorgen, ob es ruhig bleibt. Ein paar türkische Männer hätten auf dem Marktplatz davon gesprochen, sich jetzt selbst zu schützen. Kommt es zu überschiessenden Gegenreaktionen? Die Journalistin will sich in einer Moschee umhören.
Die Fronten sind klar
Schon vor der Tat sei die Stimmung in der Stadt aufgeladen gewesen, berichtet Göbel. «Aber das ist ja nicht nur in Hanau so, das betrifft ganz Deutschland.» Sachdiskussionen seien kaum noch möglich, stattdessen gehe es fast nur noch um Machtpolitik und den erbitterten Kampf gegen die AfD. «Wohin entwickelt sich unsere Wirtschaft, wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Darüber müsste viel mehr diskutiert werden», beklagt Göbel.
Der Ton ist rauer geworden, davon zeugen die Leserbriefe. Die Fronten sind klar: Nach dem Mordanschlag seien sofort die Schuldzuweisungen an die AfD gekommen, so Göbel. Und wenn er einen AfD-freundlichen Leserbrief abdrucke, sei die Entrüstung gewiss. Die Tat könnte die Stimmung weiter vergiften, befürchtet er.
«Wie kann man so grausam sein?»
Rund 300 Türken zählt die Ditip-Gemeinde in Hanau. Am Tag nach der Tat treffen sie sich wie üblich zum Freitagsgebet. Die Moschee befindet sich im Erdgeschoss eines Plattenbaus. Der Gebetsraum platzt aus allen Nähten, wie jeden Freitag. Doch diesmal stehen überall Kameras, Journalisten aus aller Welt sind nach Hanau gereist.
Der türkische Gemeindeleiter gibt Interviews – die Opfer sollen vornehmlich Kurden gewesen sein. In den sozialen Medien wird deshalb hitzig debattiert, ob Türken sich zur Gewalttat äussern sollten. Davon hält Serhat Usta gar nichts, der einige Meter von der Moschee entfernt auf dem Weg zur Arbeit ist.
Genau dieses Denken führe dazu, dass Unschuldige sterben, sagt Usta. Er hat zwei der Opfer gut gekannt, mit einem war er eng befreundet. «Wie kann jemand einen Menschen wie einen Hund – entschuldigen sie diese Ausdrucksweise – einfach abknallen? Wie kann man so grausam sein?» fragt er fassungslos. «Aber wir stehen zusammen. Ganz Hanau.»
Kein «Fremdenhass», sondern Rassismus
Knapp hunderttausend Menschen leben in Hanau, fast 40 Prozent davon sind Ausländer. Diese Menschen seien «keine Fremden», sagt der Oberbürgermeister eindringlich. «Das war kein Fremdenhass, das war Rassismus!» Claus Kaminsky nennt die Tat das Schlimmste, was seiner Stadt seit dem Krieg widerfahren ist. Und auch er lässt durchblicken, dass er die politischen Gegner am rechten Rand für mitverantwortlich hält.
Ob er diese Schuldzuweisungen für sinnvoll hält? – Jetzt gehe es um die Opfer und deren Angehörige, antwortet Kaminsky etwas ausweichend. Und fügt an: «Wir müssen uns noch mehr anstrengen, um die Verbreitung von geistigem Gift, geistigem Müll zu verhindern. Die Wirkungen sind letztlich nicht beherrschbar.»